Virtuose Zeichen: Graffiti
Fast zu offensichtlich, dachte ich zuerst. Ist es sicher auch, aber auf einer Seite zur Virtuosität dürfen Graffiti eigentlich nicht fehlen.
Graffiti wären sicher nur eine Episode in einer Geschichte des virtuosen Schreibens. Über die Virtuosität in der Kalligrafie (der europäischen, der arabischen, der chinesischen...) wäre überhaupt viel zu sagen. Das Interessante an Graffiti ist jedoch wohl, dass sie (noch) etwas anderes sind als eine schöne, technisch bravourös geschriebene Schrift.
An offizieller Stelle (auf der Seite des Instituts für Graffiti-Forschung) findet sich folgende Definition:
Graffiti (Einzahl Graffito): Der Begriff leitet sich etymologisch vom griechischen Wort graphein ab. Im italienischen Sprachraum entwickelte sich aus sgraffiare (= kratzen, das Gekratzte) Sgraffiti bzw. Graffiti. Beide Bezeichnungen standen synonym für eine Technik der Fassadengestaltung, einer Kratzputztechnik, bei welcher verschiedenfarbige Putzschichten aufgetragen und dann durch Wegkratzen der oberen Schicht reliefartige Motive gestaltet werden. Viele dieser Sgraffitohäuser stehen unter Denkmalschutz.
Um 1850 wurde der Begriff Graffiti von Altertumsforschern und Archäologen für inoffizielle, gekratzte Botschaften übernommen, denen sie bei ihren Ausgrabungen begegneten. Bald dominierte aber der "inoffizielle" Charakter einer Botschaft - unabhängig von der technischen Ausführung - die Begriffsbedeutung und führte zur heute üblichen Anwendung.
Ein Problem, das die meisten (mich eingeschlossen) mit Graffiti haben, ist: man kann sie als Uneingeweihter kaum oder gar nicht lesen.
Wie lautet zum Beispiel das folgende Wort?
OK, das war einfach. Aber wie steht es damit:
Zu den Merkmalen von Virtuosität gehört, dass ein Publikum die virtuose Performance nachvollziehen kann. Die Leute müssen die Schwierigkeiten kennen, um die Meisterschaft bei ihrer Bewältigung anzuerkennen. Es gibt Virtuosität fürs Massenpublikum, aber auch eine Virtuosität, die sich gezielt an Kenner wendet oder irgendwo zwischen Laie und Experte operiert.
Was die Graffiti-Praxis (selbst nachdem sie in den Galerien Einzug gehalten hat) sehr gut demonstriert, ist diese ausschließende Wirkung einer bestimmten Steigerung oder Übersteigerung. Es können sich geschlossene Gemeinschaften im Zeichen solcher (Über-)Steigerungen bilden.
Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat in Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen diese abweisende Wirkung des Graffiti-Zeichens betont. Sein virtuoses Ornament ist keine offene, einladende Bewegung, sondern die Spur eines Mehr-Könnens, das auf seiner Differenz zu den 'normalen' Bewohnern der Städte beharrt: ein fest gezurrter virtuoser Knoten.
Das Prinzip von Graffiti ist das der ornamentalen Variation. Das Folgende ist eine entliehene «Graffiti-Taxonomie», die Variationen des Buchstabens S zeigt:
Erklärungen dazu und anderes Wissenswerte zu Piktogrammen & Co. findet sich auf diesem Blog, bei dem ich mich für Bild & Infos bedanke.
Graffiti-Buchstabentabelle
Der amerikanische Bildhauer David Adickes schuf übrigens eine Skulptur mit dem Titel "The Virtuoso". Als ein Sprayer den Schnurrbart seines Musikers schwarz sprühte, posierte er als Protest gegen die Verschandelung des Werkes vor dem demselben als Groucho Marx - von dem Viele behaupten, er sei der virtuoseste Komiker aller Zeiten.
Große Galerie mit Graffiti
Graffiti-Enzyklopädie
Stefan Meier-Schuegraf:
Graffiti als 'typografisches' Ausdrucksmittel sozialen Stils (pdf)
Auswahl-Bibliografie zur Forschungsliteratur
Ach, ja - und zum Schluss noch mein Lieblings-Graffito-Bild unter denen, die ich gefunden habe:
allesfliesst - 11. Jul, 00:11
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