Zu den bemerkenswertesten literarischen Figuren des Virtuosen gehört sicherlich der Detektiv — jener Held des klassischen »Whodunit«, der im Unterschied zur schwerfälligen, regulär arbeitenden Polizei Verbrechen mit Leichtigkeit und Eleganz aufklärt und dies auch nur zu tun scheint, um eben diese Leichtigkeit und Eleganz zu demonstrieren.
Edgar Allan Poes Auguste Dupin gilt als Ahnherr dieses Figurentyps (obwohl es ein paar weniger bekannte Vorläufer gibt). Sherlock Holmes ist nach wie vor der berühmteste unter ihnen — und derjenige, den sein Autor am deutlichsten dem musikalischen Virtuosen annähert.
Conan Doyle stattet Holmes neben der Lupe und der Pfeife (dem Instrument des Beobachtens und dem des Denkens) nicht nur mit einer Geige als dem dritten emblematischen Objekt aus. In The Cardboard Box erweist sich Holmes sogar als Fan von Niccolò Paganini:
Im Verlauf des schmackhaften kleinen Mahles sprach Holmes über nichts anderes als über Geigen und erzählte mir mit großer Befriedigung, wie er seine Stradivari, die mindestens fünfhundert Guineen wert sein mußte, für fünfundfünfzig Shilling bei einem jüdischen Pfandleiher in der Tottenham Court Road erstanden hatte. Dies brachte ihn auf Paganini, und so saßen wir eine Stunde lang bei einer Flasche Claret, und er erzählte mir eine Anekdote nach der anderen über diesen ungewöhnlichen Mann.
Und in The Red-Headed League hastet der Detektiv durch die Vorbereitungen für den Fang eines Bankräubers, um rechtzeitig bei einem Konzert von Sarasate zu sein:
Hier der instruktive Vergleich eines aufmerksamen Lesers zwischen Sherlock Holmes und Austin Freemans Dr. Thorndyke — dem virtuosen Detektiv des 19. Jahrhunderts und dem wissenschaftlichen Detektiv des 20. Jahrhunderts. Beide deduzieren jeweils auf ihre Art Aussehen und Persönlichkeit des Trägers aus einem Hut: »Here's what a hat might tell...«
Der virtuoseste Krimi-Autor ist übrigens Gilbert K. Chesterton. Aber das ist etwas ganz anderes (und die Beziehung zwischen dem Virtuosen-Detektiv als literarischer Figur und dem virtuosen Autor wäre es wert, dass man ihr eine Reflexion widmet...was ich irgendwann zu tun gedenke).
Es besteht ein hintergründiger Zusammenhang zwischen den scheinbar jeder Kunst und Würde beraubten Leistungen, wie die Manufaktur- und Industriearbeiter sie in ihren Betrieben vollbrachten, und der Figur des Virtuosen. Die Po(i)etik von Virtuosität nimmt das, was der Industriekapitalismus massenhaft umsetzte, in gewisser Weise immer schon vorweg: Erst dort, wo die einzelne Tätigkeit von ihrer Zweckbestimmung durch die zu schaffende Ganzheit eines Werkes gelöst ist, wo der Herstellungsvorgang zum Arbeitsschritt und damit zu einer reinen Performanz wird, wo das, was zu tun ist, von selbst geht und man dessen Beobachtung darauf beschränken kann, die Einhaltung der Wiederholung zu überwachen, findet sich die Gelegenheit zu einer virtuosen Steigerung.
Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der ein Fließbandarbeiter seinen kleinen Handgriff verrichtet, zu dem er ein durchaus äußerliches, durch die mechanische Wiederholung bestimmtes Verhältnis hat, die unscheinbaren Steigerungen, die er selber in diesen vorgegebenen mechanischen Ablauf einfügt (oder aus ihm herausholt) und die nur seine eigene Performance betreffen und nicht das Produkt, das am Ende steht, sind dunkle Reflexe des Künstler-Virtuosen, der sich auf Koloraturen, Spitzentöne, rasende Arpeggien oder spektakuläre Sprünge konzentriert statt auf eine angemessene, in Proportion zur Harmonie des Ganzen stehende Wiedergabe des Kunstwerkes – und umgekehrt, denn die Geschichte der Virtuosität seit dem 19. Jahrhundert lässt sich ebenso als spektakuläre Profanierung der Kunst lesen wie als künstlerisch-kreative Redeterminierung der profanen Produktion von Waren.
Die entscheidende Frage ist, welche Szene der bzw. das Virtuose zur Demonstration seiner Steigerungen erhält: Der Detailarbeiter ist der erste Performer im Bereich der Produktion. Die Tatsache, dass er höchst effektiv arbeitet, ohne etwas Richtiges gelernt zu haben, bietet hier nur deshalb keinen Anlass zum Staunen, weil die Organisation der Fabrik dem dort Arbeitenden Zeugen verweigert, weil ihre Fertigungsarchitektur die Anwesenheit von anderen durch eine rigide mechanische Refiguration auch der Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen neutralisiert und statt Gleichheit eine Gleichartigkeit etabliert, in der niemand mehr zu bezeugen vermag, was ein anderer tut, da alle für dieselbe Maschinerie tätig sind. Der industrielle Apparat, der das ökonomische Genie des Unternehmers und das technologische des Ingenieurs (später dann das organisatorische Genie des Managers) repräsentiert, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, und er zieht sie von dem ab, was die Arbeitenden in ihren subalternen Positionen tun können.
Durch diesen Entzug von öffentlicher Aufmerksamkeit und der entsprechenden Anerkennung wird Fabrikarbeit zur am niedrigsten bewerteten Tätigkeit, während virtuose Musiker, Sänger, Tänzer und Schauspieler als gefeierte Stars umherziehen. Und keine Anstrengung, nicht einmal die Bemühungen um eine sozialistische Poetik der Arbeit (wie z.B. die Bitterfelder Beschlüsse in der DDR sie erzwingen wollten), hat das kompensieren, geschweige denn die Implementierung des Mangels an Anerkennung für das, was Menschen einfach so tun können, aufzuheben vermocht.
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Der französische Philosoph Jacques Rancière überlegt in Aux bords du politique, ob man die Revolution statt als Umsturz der Besitzverhältnisse nicht eher als Wendung der Performance-Verhältnisse denken sollte:
»Vielleicht ist es in der Tat [en effet – lies: im Effekt] nicht notwendig, dass die Arbeiter, um Gleiche zu sein, ihre Fabriken besitzen und sie selber betreiben. Es genügt vielleicht, wenn sie bei Gelegenheit [à l’occasion] demonstrieren, dass sie es tun können.« (Jacques Rancière, Aux bords du politique, Paris 1998, S. 91)
Das knüpft Gleichheit sehr bewusst an die Demonstration eines Könnens, und zwar eines Es-tun-Könnens, d.h. einer Performance, die sich nicht kraft eines souverän andeutenden Nicht-(alles)-Tuns in eine sozio-ökonomische Ordnung der Kompetenz und ihrer Herrschaftsverteilung einträgt, sondern die einmal wirklich zeigt, was sie kann, sich dort in einer Aktualisierung verausgabt, wo sich die Gelegenheit dazu bietet.
Denn es geht hier nicht um den Aufweis einer Möglichkeit (»Die Arbeiter könnten als Gleiche Anerkennung finden...«), die sich in einer Bedingung verwahrt (»...wenn es ihnen gelänge, ihre Fabriken selber zu betreiben«). Es geht nicht darum, diese Möglichkeit gegen die Realität in Anschlag zu bringen, in der die Arbeiter die Fabriken nicht besitzen und weit davon entfernt sind, diese selber zu verwalten. Der Kampf, den die Rhetorik des emanzipatorischen Handelns einrichtet, soll nicht zwischen einem Möglichen und einem Realen stattfinden, sondern zwischen einer Wirklichkeit, die sich als Wirklichkeit eines Es-Tuns der Gegenwart bemächtigt, und der sich ihrerseits stets strategisch im Möglichen zurückhaltenden und vorbehaltenden Realität der ökonomischen und sozialen Ungleichheit.
Die Demonstration des Könnens erlangt ihre Wirksamkeit darin, dass sie ihre Wirklichkeit – eben: die einer Demonstration – den Fakten entgegensetzt, anstatt den nahezu zwangsläufig zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, sich in das Feld der ökonomisch und sozial ermittelten Fakten zu integrieren. Zu wissen, dass Arbeiter eine Fabrik in eigener Regie betreiben können, legt die Konstitution der realen Verhältnisse frei, in denen sie arbeiten. Diese Demonstration zeigt, dass die Ungleichheit nicht das Reale ist, an dem die Illusionen der Gleichheit bedauerlicherweise zerschellen, sondern eine Realität, deren Konstruktion eben dadurch Bestand hat, dass sie einen Teil der Wirklichkeit verleugnet und ausschließt: das virtuose Mehr der Arbeiter.
Es ist der systematische Abzug dieses virtuosen Mehr, der das, was die Arbeiter in den Fabriken tun, zu nichts als Arbeit macht, d.h. zu einem ›zurecht‹ untergeordneten Ausführen, das nicht imstande ist, sich aus eigener Kraft zu organisieren. Demonstrationen hätten demgegenüber eine Szene zu eröffnen, auf der die »Virtuosität des Detailarbeiters« in Erscheinung treten kann, die schon Marx in Staunen versetzt hat.
Giorgio Agamben scheint in seinem Versuch, die Profanierung wiederzuentdecken, eine Theorie der sozialen Virtuosität zu implizieren. Denn es geht dabei um nicht weniger als um die Erlösung des Handelns, seine Entbindung von den metaphysischen Determinationen und seine Befreiung zur irdischen Endlichkeit durch das Spiel.
Agamben macht einen sehr allgemeinen Sachverhalt deutlich: Es gibt in der abendländischen Kultur keine direkte, unkomplizierte Handhabung der Dinge. Der Zugriff auf die Dinge wird von einer Intention bestimmt, diese von einem Willen, und dieser ist hintergründig durch ein Begehren determiniert, das die Intention durchkreuzt und sich an den Widerständen aufrichtet, die das Ding dem Handeln bietet. Es hat in der abendländischen Kultur niemals eine Sphäre des reinen Gebrauchs gegeben, nur ein temporäres Vergessen der Komplikationen oder ein gewaltsames Sichdurchsetzen dagegen (die Technik). Der Gebrauch ist dort, wo er stattfindet, eine ursprüngliche Wiederaneignung von Dingen, die dem menschlichen Zugriff durch sich selbst, durch das, was im Wesen der Dinge und im Wesen der zugreifenden Hand stets über das Ding und die Handlung hinaus weist (und zugleich in einer Art Mangelhaftigkeit davor zurückbleibt), entzogen waren. Agambens Definition der Profanierung setzt eine umfassende Anerkennung dieses ursprünglichen Entzugs voraus: Erst in dem Moment, wo bestimmte Dinge profaniert, dem Bereich des Heiligen (des für den Gebrauch Verbotenen, explizit als unzugänglich Markierten) entwendet oder aus ihm ausgesondert werden, ergibt sich für die Menschen die Möglichkeit, sie zu gebrauchen. Der Gebrauch ist kein primäres Verhältnis zu den Dingen, in das die Religion einbricht, das sie unterbricht, um eine Sphäre des vom Nutzen Freien zu schaffen, sondern umgekehrt hängt der Gebrauch von der Chance zu einer Vernachlässigung des Heiligen ab.
Die Profanierung, wie Agamben sie denkt, ist also eine allgemeine kulturelle Formel des Handelns als eine Form von access. Die Profanierung gewährt Zugang zu einer Eignung der Dinge, sie verschafft die irdische Erlösung des Dings zu einer Brauch- und Genießbarkeit. Dinge sind nicht ohne Weiteres zuhanden – sie müssen profaniert worden sein, wenn wir etwas mit ihnen anfangen können wollen.
Agamben nennt das Spiel als wichtigstes Performativ der Profanierung, ja als ein Modell des Profanierens: Das spielende Kind nimmt etwas aus der religiösen, durch die Einhaltung und Überwachung von Grenzen konfigurierten Welt der Erwachsenen und verwandelt es in ein Spielzeug (dies ist z.B. das Prinzip der Fernsehserie Tool Time, deren Komik darauf beruht, dass der Heimwerker-Ehemann als Prototyp des großen Kindes alles – Liebe, soziale Beziehungen, Beruf, psychische Problem usw. – profanieren und in ein Spielzeug verwandeln kann). Das Kind erlangt so eine besondere Autonomie, denn es findet immer etwas Brauchbares zum Spielen, egal, wie ärmlich oder feindselig die Umwelt ist. Agamben vergleicht diese kindliche Selbstermächtigung durch Profanierung der Tätigkeit des Philosophen. Kind und Philosoph erscheinen als das seit Nietzsche klassische Doppelgestirn, aber es geht hier um das scheinbar Alleralltäglichste: Das Spiel gewährt erst eigentlich Zugang zum Gebrauch, und nur der Philosoph und das Kind wissen um eine Wendung der Dinge, in der diese dem Menschen vollkommen zuhanden sind.
Agamben überspringt dabei den Künstler - und das vielleicht, um eine sehr viel problematischere Refiguration des Kindes zu vermeiden als die durch den Philosophen. Denn was etwa für aktuelle Management-Konzepte am Künstler vor allem attraktiv ist, ist eben dies: seine Fähigkeit, alles zum Mittel des Handelns zu machen, kraft seines spielerischen Zugangs zur Welt einen Gebrauchswert aus den Dingen herauszuholen, der jeder direkt ziel- und interessegeleiteten Annäherung verwehrt bleibt. Der Künstler lebt in einem Paradies der vollkommenen Brauchbarkeit. Seine schöpferischen Initiativen müssen sich offenbar nicht gegen Widerstände durchsetzen außer solchen, die er bewusst und bereitwillig eingeht, weil sie seine Tätigkeit intensivieren, den Input, den Kontakt mit sich selbst und damit letztlich den Genuss erhöhen. Die künstlerische Konsequenz des Spiels steht für eine Ökonomie der Profanierung, die der Kapitalismus seit einiger Zeit mit großer Neugier verfolgt – und Agamben, der die Profanierung explizit gegen die kapitalisische Banalisierung des Heiligen positioniert, trifft (oder: träfe) in der Figur des Künstlers auf einen prekären Spieler.
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Wie Agamben siehtJeremy Rifkin die böse Absicht des Kapitalismus darin, „das Spiel zu kolonisieren“ (Access. Das Verschwinden des Eigentums Ffm., S. 351). Er betrachtet das Spielen als eine ursprüngliche, authentische und freie Form kultureller Produktivität. Doch hat das Spiel immer schon eine eigene Tendenz, sich in eine ökonomische Version seiner selbst hineinzusteigern, und die postfordistische Ökonomie tut nichts anderes, als diese Tendenz aufzugreifen, sie zu verstärken und ins Extrem zu treiben. Man könnte behaupten, dass die kulturanthropologischen, philosophischen und pädagogischen Modelle eines Spiels, das man als Gegenpol zu Arbeit und Herstellung auffassen wollte, einseitige Idealisierungen waren – und dass erst heute, da die Grenze von Spiel und Arbeit wirklich ihre normierende und schützende Macht zu verlieren beginnt, das Spiel in der Totalität seiner produktiven Kraft herauskommt.
Agambens Definition der Profanierung – etwas zuvor religiös Gebundenes und Entzogenes werde den Menschen zum Gebrauch zur Verfügung gestellt – idealisiert den Vorgang dort, wo er unterstellt, die Menschen, so wie sie als zur Menschheit gehörig von der Religion angesprochen wurden (durch einen gemeinsamen Ausschluss ihres Handelns vom Bereich des Heiligen), seien auch die Empfänger des Profanierten. Was aber dem Heiligen entnommen und in die Verfügung des Gebrauchs gestellt ist, das entzieht sich dem unmittelbaren Zugriff durch etwas anderes als die sorgsam und gewaltsam überwachte Grenze des Heiligen – es entzieht sich durch die Notwendigkeit der Teilnahme an jenen sozialen Vorgängen, die Zugang zum Brauchbaren verschaffen. Die Welt, in die das Profane fällt, ist entlang einer Indirektheit organisiert, die ihrem Wesen nach soziale Beziehung ist. Ehe die kapitalistische Simulation der Profanierung die Möglichkeit eines reinen Gebrauchs zerstört, sind es die sozialen Be-dingungen der Partizipation, die das profane Ding auf Wegen zirkulieren lassen, zu denen es immer wieder erst Zugang zu erlangen gilt.
Man sollte das Heilige also nicht nur dem Profanen entgegensetzen, sondern auch dem Sozialen: Während die Religion den Entzug lokalisiert, ihn auf einen Bereich des Geheiligten begrenzt, um den herum sich die Menschen versammeln, verteilt die total sozial gewordene Ordnung des entheiligten Lebens den Entzug flächig und gleichmäßig. Die Distribution der profanen Dinge und Verbreitung des Entzugs geraten hier zu ein und demselben Verfahren. Und für diese Gesellschaft gilt uneingeschränkt, was Adorno von der Virtuosität gesagt hat – sie sei „Herrschaft, als Spiel“.
Dies ist das Manuskript eines Vortrags, den ich am 30.8.2007 im Kunstmuseum Liechtenstein anlässlich der Ausstellung »Auszeit - Kunst und Nachhaltigkeit« gehalten habe und auf Wunsch einiger Besucher/innen hier als pdf zum Download zur Verfügung stelle.
In unserm Seminar über Virtuosität hatten wir die Studierenden aufgefordert, Beispiele von Musik(ern) mitzubringen, die sie virtuos finden. Das Material reichte sogar für zwei Sitzungen, und es gab durchaus unterschiedliche Formen von Virtuosität zu entdecken - aber es handelte sich ausschließlich um Klassik und Jazz.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, selber zumindest ein Exemplar virtuoser Popmusik mitzubringen. Doch daraus wurde nichts. Auf die Schnelle fand sich nichts. Da waren schon einige Bands, die mir unzweifelhaft virtuos erschienen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass anderen diese Virtuosität ohne weiteres als solche einleuchten würde. Ja, ich hätte für mich selber Schwierigkeiten gehabt, das Virtuose der Musik in Worte zu fassen.
Dieses Blog ist nun eine gute Gelegenheit das nachzuholen. Ich möchte in der nächsten Zeit eine Reihe von Bands und Musikern vorstellen, die ich virtuos finde. Und versuchen zu erklären warum.
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Was Allgemeines vorweg. Ein paar Probleme mit dem Begriff des Virtuosen im Pop liegen sicher auf der Hand:
--- Es gibt keine personelle Trennung zwischen Komponist und ausführendem Musiker wie in der klassischen Musik, aber auch kein Komponieren-im-Ausführen wie im improvisierenden Jazz.
--- Die spieltechnische Ausbildung im Pop ist bislang sehr wenig institutionalisiert (Musikschulen und -hochschulen fangen erst langsam an, Pop in ihren Ausbildungskanon zu integrieren). Entsprechend bewegt sich das technische Niveau der meisten Popmusiker auf einem Level zwischen Dilettantismus und fortgeschrittenem Dilettantismus (auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt).
--- Virtuosität gehörte eigentlich nie zur programmatischen Ästhetik irgendeiner Richtung von Pop, Rock, Punk, Wave, Disco, whatever. Selbst die sehr jazz-nahen Endlos-Gitarrensolo-Ornamente des 70er Progrock imaginierten sich selbst eher als Zwiegespräch mit irgendeinem Wesentlichen, das lange und dicht umsponnen sein wollte - nicht als Steigerung eines Könnens, als technische Brillanz. Die wichtigsten Impulse des Pop seit Ende der 70er waren sogar dezidiert anti-virtuos: der offensive Dilettantismus von Punk, das kontrollierte Programmieren von Sounds und Strukturen der Post-Kraftwerk-Ära, die stumpfen «Ritornelle» von Techno & Co. Und durch alle Neuerungen und Revolutionen hindurch hielt sich im Zentrum von Pop der wohlgestaltete 3,5-Minuten Song mit seiner herzergreifenden Einfachheit von Strophe-Refrain-Strophe-Refrain...
Andererseits sind da sehr wohl Voraussetzungen erfüllt, um von Virtuosität zu sprechen:
--- Pop funktioniert spätestens seit den 90ern als ein Feld schneller und effizienter Konventionalisierungen. Was immer Neues auftaucht, sedimentiert sich binnen kürzester Zeit als neuer Stil - und im Zusammenhang mit dieser Dynamik hat das Pop-Publikum einen äußerst feinen Sinn für kleinste Abweichungen entwickelt: Ein etwas verschleppter Beat, eine etwas trockenere Rhythmusgitarre, ein etwas korg-igerer 80s-Synthesizer reichen schon aus, um eine stilistische Differenz zu markieren. Und stilistische Differenzen haben in der Popwelt, in der Musiker, Kritiker und Hörer einander umkreisen und durchdringen, stets soziale Konsequenzen.
--- Der notorische Eklektizismus seit den 90ern hat die Musik genauso wie das Aussehen und Verhalten in eine Reihe von Figuren zerlegt. Wer Pop macht oder Pop lebt, nimmt diese Figuren sehr bewusst als solche wahr, wählt einige, vollzieht sie nach, versucht sie individuell zu pointieren und zu steigern. Man könnte Pop also duchaus als eine Sphäre virtuosen Lebens ansehen. Musik ist da eher das Struktur- und Verfahrensprinzip als der Sinn des Ganzen. Der freien Steigerung scheinen keine Grenzen gesetzt.
--- Natürlich gab es in der Geschichte des Pop immer Virtuosen-Figuren, auch wenn man sie vielleicht nicht so genannt hat (manchmal aber doch): Jimmi Hendrix, Brian Ferry, Morrisey - um nur drei ganz offensichtliche und möglichst verschiedenartige zu nennen.
Okay, kommen wir also zu...
Wer was zur Bandgeschichte wissen will, kann hier nachlesen oder sich die Myspace-Seite der Band anschauen, wo es auch aktuelle Songs gibt.
Das Verfahren von MM ließe sich formelhaft so beschreiben: Sie brechen das Modell eines Indierock-Songs in Stücke. Und werfen sich dann in ihrem Bandkollektiv diese Stücke gegenseitig zu.
Dem Kollektiv, das aus 6 + x Spielern besteht, gelingt es eine zuweilen erstaunliche Zahl solcher Stücke gleichzeitig in der Luft zu halten. Das kollektive Herangehen ans Musik-Machen hat durchaus Ähnlichkeiten zur Arbeitsweise von Jazz-Ensembles: es gibt ein gewisses Maß an Improvisation während des Produktionsprozesses, und man hört die Individualität der Mitglieder, ihre etwas unterschiedlichen Vorlieben und vielleicht auch Interpretationen dessen, was sie tun, noch auf den Aufnahmen deutlich heraus. MM haben daher eigentlich keinen Bandsound (obwohl es sicher Fans und Kritiker gibt, die das anders sehen). Sie klingen nach ein paar Typen, die Zeit miteinander verbringen.
Es gibt zwei großartige, im emphatischen Sinne virtuose Momente in der Musik von MM: Erstens die kurzen Phasen, wo sich das Jonglieren mit den Bruchstücken von Indierock stark verdichtet - wo auf einmal ein Dutzend oder mehr solcher Fragmente, von großen, klotzigen Brocken bis zu winzigen Splittern, unterschiedlich schnell und mit unterschiedlichem Spin durch den akustischen Raum wirbeln. Zweitens die Augenblicke, in denen eins davon runterfällt.
MM sind Virtuosen im Sinne des Könnens (und zu solchen sind sie mit den Jahren ihres Bestehens immer mehr geworden - einige Stücke des aktuellen Albums We Were Dead Before The Ship Even Sank stellen diesbezüglich einen Höhepunkt dar). Aber sie sind auch Virtuosen des Scheiterns, wenn man so will: Man hat oft den Eindruck, dass sie dieses akrobatische Spiel mit Rock eigentlich nur spielen, um zu demonstrieren, wie erleichternd es ist, wenn was schief geht. Insofern also eine sehr moderne Virtuosität.
Songs, in denen sich die Virtuosität von Modest Mouse entdecken lässt (die mir gerade so einfallen):
Dirty Fingernails
(gibts for free auf epitonic - bitte selber suchen, lässt sich nicht direkt verlinken)
Mit 13 nahm mein Vater mich zu einer Show von Jacques Secrétin mit, einem ehemaligen Profi-Tischtennisspieler, der sich nach dem Gewinn des Europameistertitels und des Weltmeistertitels im Doppel darauf verlegt hatte, Tischtennis tatsächlich als Spiel zu betreiben.
Schon während seiner Zeit als Wettkampfsportler gehörte es zu Secrétins Spezialitäten, Schmetterbälle zu retournieren: Der Gegner hämmerte den Ball mit aller Gewalt auf die Platte - Secrétin fing ihn mit seiner Kelle ab und gab ihn in einem hohen, langsamen, fast provozierend eiernden Bogen zurück, und das drei Mal, vier Mal, fünf Mal... In seiner Show steigerte er es mit seinem Partner auf dreißig Mal oder mehr.
Den Höhepunkt einer Secrétin-Show stellte aber zweifellos eine Sequenz dar, in der er während des Ballwechsels einen kleineren Tisch auf den großen stellte und darauf weiter spielte - dann einen noch kleineren - dann kleinere Schläger - schließlich, die Spieler schon auf dem Tisch sitzend, eine winzige Puppenstubenversion. (Das Video zeigt eine etwas bescheidenere Variante davon - vielleicht hat aber auch nur meine Erinnerung die Virtuosität im Nachhinein weiter gesteigert.)
Die Übergänge zwischen Sport, Akrobatik und Ballett sind zweifellos fließend. Sie unterscheiden sich vielleicht sogar nur darin, welche Bedeutung sie dem Mehr, was die Performer zu bieten haben, jeweils geben: die einer Leistung im Sport, die einer Magie (oder Komik) in der Akrobatik, die von ästhetischer Perfektion im Ballett. Secrétin war einfach gut darin, das ein bisschen durcheinander zu bringen.
Fast zu offensichtlich, dachte ich zuerst. Ist es sicher auch, aber auf einer Seite zur Virtuosität dürfen Graffiti eigentlich nicht fehlen.
Graffiti wären sicher nur eine Episode in einer Geschichte des virtuosen Schreibens. Über die Virtuosität in der Kalligrafie (der europäischen, der arabischen, der chinesischen...) wäre überhaupt viel zu sagen. Das Interessante an Graffiti ist jedoch wohl, dass sie (noch) etwas anderes sind als eine schöne, technisch bravourös geschriebene Schrift.
Graffiti (Einzahl Graffito): Der Begriff leitet sich etymologisch vom griechischen Wort graphein ab. Im italienischen Sprachraum entwickelte sich aus sgraffiare (= kratzen, das Gekratzte) Sgraffiti bzw. Graffiti. Beide Bezeichnungen standen synonym für eine Technik der Fassadengestaltung, einer Kratzputztechnik, bei welcher verschiedenfarbige Putzschichten aufgetragen und dann durch Wegkratzen der oberen Schicht reliefartige Motive gestaltet werden. Viele dieser Sgraffitohäuser stehen unter Denkmalschutz.
Um 1850 wurde der Begriff Graffiti von Altertumsforschern und Archäologen für inoffizielle, gekratzte Botschaften übernommen, denen sie bei ihren Ausgrabungen begegneten. Bald dominierte aber der "inoffizielle" Charakter einer Botschaft - unabhängig von der technischen Ausführung - die Begriffsbedeutung und führte zur heute üblichen Anwendung.
Ein Problem, das die meisten (mich eingeschlossen) mit Graffiti haben, ist: man kann sie als Uneingeweihter kaum oder gar nicht lesen.
Wie lautet zum Beispiel das folgende Wort?
OK, das war einfach. Aber wie steht es damit:
Zu den Merkmalen von Virtuosität gehört, dass ein Publikum die virtuose Performance nachvollziehen kann. Die Leute müssen die Schwierigkeiten kennen, um die Meisterschaft bei ihrer Bewältigung anzuerkennen. Es gibt Virtuosität fürs Massenpublikum, aber auch eine Virtuosität, die sich gezielt an Kenner wendet oder irgendwo zwischen Laie und Experte operiert.
Was die Graffiti-Praxis (selbst nachdem sie in den Galerien Einzug gehalten hat) sehr gut demonstriert, ist diese ausschließende Wirkung einer bestimmten Steigerung oder Übersteigerung. Es können sich geschlossene Gemeinschaften im Zeichen solcher (Über-)Steigerungen bilden.
Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat in Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen diese abweisende Wirkung des Graffiti-Zeichens betont. Sein virtuoses Ornament ist keine offene, einladende Bewegung, sondern die Spur eines Mehr-Könnens, das auf seiner Differenz zu den 'normalen' Bewohnern der Städte beharrt: ein fest gezurrter virtuoser Knoten.
Das Prinzip von Graffiti ist das der ornamentalen Variation. Das Folgende ist eine entliehene «Graffiti-Taxonomie», die Variationen des Buchstabens S zeigt:
Erklärungen dazu und anderes Wissenswerte zu Piktogrammen & Co. findet sich auf diesem Blog, bei dem ich mich für Bild & Infos bedanke.
Der amerikanische Bildhauer David Adickes schuf übrigens eine Skulptur mit dem Titel "The Virtuoso". Als ein Sprayer den Schnurrbart seines Musikers schwarz sprühte, posierte er als Protest gegen die Verschandelung des Werkes vor dem demselben als Groucho Marx - von dem Viele behaupten, er sei der virtuoseste Komiker aller Zeiten.
Dieses Blog ist eine Sammelstelle für virtuose Performances. Jeder kann Beiträge posten. Schreibt, was oder wen ihr virtuos findet. Und ladet Bilder oder Videos hoch, wenn ihr mögt.