Virtuoser Pop #1 - Modest Mouse
In unserm Seminar über Virtuosität hatten wir die Studierenden aufgefordert, Beispiele von Musik(ern) mitzubringen, die sie virtuos finden. Das Material reichte sogar für zwei Sitzungen, und es gab durchaus unterschiedliche Formen von Virtuosität zu entdecken - aber es handelte sich ausschließlich um Klassik und Jazz.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, selber zumindest ein Exemplar virtuoser Popmusik mitzubringen. Doch daraus wurde nichts. Auf die Schnelle fand sich nichts. Da waren schon einige Bands, die mir unzweifelhaft virtuos erschienen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass anderen diese Virtuosität ohne weiteres als solche einleuchten würde. Ja, ich hätte für mich selber Schwierigkeiten gehabt, das Virtuose der Musik in Worte zu fassen.
Dieses Blog ist nun eine gute Gelegenheit das nachzuholen. Ich möchte in der nächsten Zeit eine Reihe von Bands und Musikern vorstellen, die ich virtuos finde. Und versuchen zu erklären warum.
--- Es gibt keine personelle Trennung zwischen Komponist und ausführendem Musiker wie in der klassischen Musik, aber auch kein Komponieren-im-Ausführen wie im improvisierenden Jazz.
--- Die spieltechnische Ausbildung im Pop ist bislang sehr wenig institutionalisiert (Musikschulen und -hochschulen fangen erst langsam an, Pop in ihren Ausbildungskanon zu integrieren). Entsprechend bewegt sich das technische Niveau der meisten Popmusiker auf einem Level zwischen Dilettantismus und fortgeschrittenem Dilettantismus (auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt).
--- Virtuosität gehörte eigentlich nie zur programmatischen Ästhetik irgendeiner Richtung von Pop, Rock, Punk, Wave, Disco, whatever. Selbst die sehr jazz-nahen Endlos-Gitarrensolo-Ornamente des 70er Progrock imaginierten sich selbst eher als Zwiegespräch mit irgendeinem Wesentlichen, das lange und dicht umsponnen sein wollte - nicht als Steigerung eines Könnens, als technische Brillanz. Die wichtigsten Impulse des Pop seit Ende der 70er waren sogar dezidiert anti-virtuos: der offensive Dilettantismus von Punk, das kontrollierte Programmieren von Sounds und Strukturen der Post-Kraftwerk-Ära, die stumpfen «Ritornelle» von Techno & Co. Und durch alle Neuerungen und Revolutionen hindurch hielt sich im Zentrum von Pop der wohlgestaltete 3,5-Minuten Song mit seiner herzergreifenden Einfachheit von Strophe-Refrain-Strophe-Refrain...
Andererseits sind da sehr wohl Voraussetzungen erfüllt, um von Virtuosität zu sprechen:
--- Pop funktioniert spätestens seit den 90ern als ein Feld schneller und effizienter Konventionalisierungen. Was immer Neues auftaucht, sedimentiert sich binnen kürzester Zeit als neuer Stil - und im Zusammenhang mit dieser Dynamik hat das Pop-Publikum einen äußerst feinen Sinn für kleinste Abweichungen entwickelt: Ein etwas verschleppter Beat, eine etwas trockenere Rhythmusgitarre, ein etwas korg-igerer 80s-Synthesizer reichen schon aus, um eine stilistische Differenz zu markieren. Und stilistische Differenzen haben in der Popwelt, in der Musiker, Kritiker und Hörer einander umkreisen und durchdringen, stets soziale Konsequenzen.
--- Der notorische Eklektizismus seit den 90ern hat die Musik genauso wie das Aussehen und Verhalten in eine Reihe von Figuren zerlegt. Wer Pop macht oder Pop lebt, nimmt diese Figuren sehr bewusst als solche wahr, wählt einige, vollzieht sie nach, versucht sie individuell zu pointieren und zu steigern. Man könnte Pop also duchaus als eine Sphäre virtuosen Lebens ansehen. Musik ist da eher das Struktur- und Verfahrensprinzip als der Sinn des Ganzen. Der freien Steigerung scheinen keine Grenzen gesetzt.
--- Natürlich gab es in der Geschichte des Pop immer Virtuosen-Figuren, auch wenn man sie vielleicht nicht so genannt hat (manchmal aber doch): Jimmi Hendrix, Brian Ferry, Morrisey - um nur drei ganz offensichtliche und möglichst verschiedenartige zu nennen.
Okay, kommen wir also zu...
Das Verfahren von MM ließe sich formelhaft so beschreiben: Sie brechen das Modell eines Indierock-Songs in Stücke. Und werfen sich dann in ihrem Bandkollektiv diese Stücke gegenseitig zu.
Dem Kollektiv, das aus 6 + x Spielern besteht, gelingt es eine zuweilen erstaunliche Zahl solcher Stücke gleichzeitig in der Luft zu halten. Das kollektive Herangehen ans Musik-Machen hat durchaus Ähnlichkeiten zur Arbeitsweise von Jazz-Ensembles: es gibt ein gewisses Maß an Improvisation während des Produktionsprozesses, und man hört die Individualität der Mitglieder, ihre etwas unterschiedlichen Vorlieben und vielleicht auch Interpretationen dessen, was sie tun, noch auf den Aufnahmen deutlich heraus. MM haben daher eigentlich keinen Bandsound (obwohl es sicher Fans und Kritiker gibt, die das anders sehen). Sie klingen nach ein paar Typen, die Zeit miteinander verbringen.
Es gibt zwei großartige, im emphatischen Sinne virtuose Momente in der Musik von MM: Erstens die kurzen Phasen, wo sich das Jonglieren mit den Bruchstücken von Indierock stark verdichtet - wo auf einmal ein Dutzend oder mehr solcher Fragmente, von großen, klotzigen Brocken bis zu winzigen Splittern, unterschiedlich schnell und mit unterschiedlichem Spin durch den akustischen Raum wirbeln. Zweitens die Augenblicke, in denen eins davon runterfällt.
MM sind Virtuosen im Sinne des Könnens (und zu solchen sind sie mit den Jahren ihres Bestehens immer mehr geworden - einige Stücke des aktuellen Albums We Were Dead Before The Ship Even Sank stellen diesbezüglich einen Höhepunkt dar). Aber sie sind auch Virtuosen des Scheiterns, wenn man so will: Man hat oft den Eindruck, dass sie dieses akrobatische Spiel mit Rock eigentlich nur spielen, um zu demonstrieren, wie erleichternd es ist, wenn was schief geht. Insofern also eine sehr moderne Virtuosität.
Dirty Fingernails
(gibts for free auf epitonic - bitte selber suchen, lässt sich nicht direkt verlinken)
Other People's Lives
(Freier Download von hier thanx to puritan blister)
Trucker's Atlas
(gibts hier in einer Live-Version)
Karma's Payment
The View
Und hier noch ne Menge weitere freie und legale Downloads
allesfliesst - 19. Jul, 16:25
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