Donnerstag, 13. Dezember 2007

Wunderkinder




Zu den Figuren, die ein Diskurs über das Virtuose stets mit aufruft, gehört das Wunderkind, ohne dass jedoch ganz klar wäre, wie es mit diesen kleinen Zuviel-Könnern steht. Der Fünfjährige, der auf der Geige brilliert, verkörpert schon etwas, das für die Dynamik des Virtuos-Werdens wesentlich ist: Man kann es zur Virtuosität bringen, ohne ›Reife‹ zu besitzen. Man kann sofort damit anfangen und sehr schnell sehr weit damit kommen. Die Zeit des Virtuos-Werdens ist eine durchaus andere als die der Reifungsbiographie. Wer virtuos wird, vollzieht nicht die richtigen Entwicklungsschritte im vorgesehenen Alter, sondern richtet seine Steigerung in einem ersten Augenblick ein. Und er verbleibt in diesem Augenblick, während er seine Performance weiter und weiter steigert – die Bahn der Steigerung führt niemals aus dem Verfrühten des ersten Erfolges heraus, weshalb der Virtuose später, wenn die anderen ihre Fähigkeiten entfaltet haben, auf der einsamen Höhe seiner Spitzenperformance doch wie ein Zurückgebliebener anmuten kann. An den Glanz des wunderbar begabten Kindes erinnert das Kindische jenes Glanzes, auf dessen Erzeugung der Erwachsene sich einzig versteht.

»Wahre Virtuosen«, möchte man daher rasch betonen, sind mehr als Wunderkinder. Denn der populistische Kult um die Wunderkinder scheint all das ans Licht zu zerren, was an der Virtuosität selbst im Verdacht steht, falsch zu sein: Ihre Leistungen entwertet das Voreilige der Effekte. Das, was man Frühreife nennt, wartet stets darauf, vom regulären Vergehen der gemeinen Zeit als einziger Effekt entlarvt zu werden. Adorno verglich die frühreifen Menschenwesen mit Treibhauspflanzen: »Sie sind ein Ärgernis der naturhaften Ordnung, und hämische Gesundheit weidet sich an der Gefahr, die ihnen droht, so wie die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negation der Gleichung von Erfolg und Anstrengung mißtraut. In ihrer inwendigen Ökonomie vollzieht sich, bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die man ihnen stets gönnte.« (Minima Moralia, Nr. 101)

Die standardisierte Zeitlichkeit einer »altersgemäßen Entwicklung« setzt sich, so scheint es, schließlich gegen das Irreguläre durch, indem das Leben selbst für das Mehr, das es anfangs gewährte, etwas zurückfordert: Bazzini mit fünf kostet entweder eine verarmte, durch die einseitige Konzentration auf das Instrument und die unzähligen Stunden des Übens verkrüppelte Persönlichkeit, oder (und hier liegt dieselbe Kalkulation zugrunde) sie kostet die ›wahre Kunst‹, die Fähigkeit, mit fünfundzwanzig etwas Besseres, Tieferes, künstlerisch Anspruchsvolleres als Bazzini zu spielen. »Das Leben«, d.h. eine bestimmte Ökonomie der Zeit, hat in diesen bürgerlichen Vorstellungen vom Künstlertum die Aufgabe, den Frevel des Verfrühten zu rächen. Mehr zu können, als die geltenden sozialen Standards für möglich annehmen – das darf, ja soll es geben, solange es sich an das Modell eines Pakts mit dem Teufel hält, für den der Profitierende seine Seele hergibt.





Was geschieht aber mit dieser so soliden bürgerlichen Ökonomie eines Ausgleichs von Mehr-Leistung und Mangel heute, da die neoliberale Reformpädagogik sich offenbar anschickt, das hochbegabte Kind zu einem sozialen Faktum zu erklären – also gerade jenen Bruch mit der »naturhaften Ordnung« zu naturalisieren?

Die ökonomische Direktive dieser Pädagogik, der man an »fortschrittlichen« Privatschulen mit glänzenden PISA-Ergebnissen folgt, lautet, das Potenzial eines Schülers bis zur Neige auszuschöpfen. Zu diesem Zweck ist man bereit, Standards wie ein einheitliches Notensystem oder die fixe Einteilung in Klassenstufen aufzugeben. An die Stelle der Standardisierung soll ein radikaler Individualismus treten, der jeden Lernenden nach seinen spezifischen Möglichkeiten fördert und ihm hilft, das Maximum dessen zu erreichen, was er (oder natürlich: sie) zu erreichen vermag

Die Individualisierung findet hier in der Dimension des Möglichen statt. Die Pädagogik definiert kein Leistungsniveau mehr, von dem sie annimmt, dass alle es erreichen können. Sie verlegt sich darauf, in einer aufwändigen persönlichen Einzelbetreuung das individuelle Möglichkeitsprofil eines jeden Schülers zu ermitteln. Es soll hinsichtlich der Leistung keine normalen Kinder mehr geben. Statt die Leistungen des Einen gegen die der anderen zu rechnen, verrechnet man nun jeden Leistenden mit sich selbst. An die Stelle einer Ordnung von Norm und Überschreitung (nach oben oder nach unten) tritt eine freie Dynamik der Normalisierung, die Gerechtigkeit verspricht, weil sie das Zu-viel ebenso wenig kennt wie das Zu-wenig, weil sie keine Abstände zwischen Wirklichem und Möglichem, sondern nur Verteilungen registriert, in denen Wirklichkeit und Möglichkeit immer schon miteinander zu einem einzigen Wert verschmolzen sind, da das Mögliche ebenso individualisiert ist wie das Wirkliche, sich dem Wirklichen angepasst hat.

Die Hoffnungen, die Eltern und Politiker auf diese Reformschulen projizieren, gehen darauf aus, dass man dort in allen oder jedenfalls in vielen die Wunderkinder entdecken wird, deren außerordentliche Talente bislang in den konventionellen Bildungseinrichtungen keine Beachtung fanden und verkümmerten – und die Schulen leben derzeit davon, dass sie diese Hoffnungen entsprechend manipulieren, sich als institutioneller Zugang zum Erhofften präsentieren. Doch tatsächlich kündigt die neoliberale Pädagogik nicht mehr an, als dass sie jedes Kind zu dem machen wird, was es ist. Es wird keine neue Ära des Wunderbaren anbrechen, sondern die alte, noch durch die Widersprüche und Paradoxien der immanenten Auflehnung des Menschen gegen die Natur bestimmte, definitiv an ihr Ende gelangen. Die Naturalisierung von Leistung bewahrt vor den negativen Konsequenzen des Unnatürlichen. Sie tilgt jedoch im selben Zug sämtliche Spuren jenes Menschlichen, das nur als Über-Natürliches, sich über die Bedingungen der eigenen Existenz Hinwegsetzendes Geltung beanspruchen konnte. Das heißt, sie tilgt die Spuren des Virtuosen als einer Berufungsinstanz für die Nichtübereinstimmung eines Menschen mit dem Leben seiner Spezies. Die neuen Virtuosen werden Bio-Sozio-Virtuosen sein: Vertreter ihrer Art bis in die abwegigsten Ausbildungen von Fähigkeiten hinein, deren evolutionärer Nutzen sich nicht einmal mehr in einem Beitrag zum Leben der Menschheit, sondern unmittelbar im eigenen Leben erweist. War das Wunderkind noch ein Symbol der Verausgabung (ihrer Pracht und ihrer Gewalt), gibt sich das seinen Möglichkeiten entsprechend geförderte hochbegabte Kind als Ressource, Produktionsmittel und Produkt einer Bio-Ökonomie zu erkennen, die auf keinen Ertrag zu verzichten gewillt ist, am wenigsten auf das verausgabte Mehr.













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kinder (Gast) - 6. Apr, 16:34

Unfassbar was so kleine Kinder schon beherrschen!

was ist virtuos?

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Dieses Blog ist eine Sammelstelle für virtuose Performances. Jeder kann Beiträge posten. Schreibt, was oder wen ihr virtuos findet. Und ladet Bilder oder Videos hoch, wenn ihr mögt.

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