Dienstag, 16. Oktober 2007

Die große Kombination. Virtuosität im Schach (I)




Schach gilt als ein „logisches“ Spiel. Das ist, bestenfalls, die halbe Wahrheit, und die Faszination am Schach betrifft zumeist gerade die Momente, in denen sich das „Logische“, die Determiniertheit einer bestimmten Zugfolge, mit gewissen unwägbaren, dem Bereich des Ästhetischen, des Psychologischen und Biologischen, des Metaphysischen oder sogar Politischen zugehörenden Momenten verbindet.

Es gibt beispielsweise eine Faszination an der klaren Schönheit und Eleganz von Zügen oder Kombinationen, aber auch an der ästhetischen Eigenwilligkeit „exzentrischer“ Eröffnungen oder Varianten (überhaupt hat das Schach eine Ästhetik-Geschichte: zu Beginn des 20. Jahrhunderts ereignete sich mit den „hypermodernen“ Eröffnungen ein Bruch mit dem klassischen Konzept, möglichst geradlinig das Zentrum zu besetzen und viel Raum einzunehmen – ein Bruch, der die Gewissheiten bezüglich Raum und Zeit, Macht und Ohnmacht, Gewinn und Verlust ähnlich radikal in Frage gestellt hat wie in der Kunst).

Oder es gibt eine Faszination an jener Größe namens „Geisteskraft“, wo die messbare Intelligenz niemals isoliert auftaucht, sondern im Zusammenhang steht mit der psychischen und physischen Kondition eines Spielers, seiner Fähigkeit, Angst und Nervosität zu beherrschen oder beim Gegner zu verstärken, in der entscheidenden Phase der Partie zu brillanter Form aufzulaufen, ein langes, kräftezehrendes Turnier durchzustehen.

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Die Annalen der Schachgeschichte sind voll von eigenwilligen Techniken, Tics und zwielichtigen Manövern, die nicht selten die Grenze zum Gesetzwidrigen oder Übernatürlichen, zur technologischen oder magischen Verschwörung berühren: Nimzowitschs Kopfstände, während sein Kontrahent am Zug war, die „das Gehirn mit Blut versorgen“ sollten, aber vor allem auch dazu beitrugen, den anderen zu irritieren, gehören ebenso dazu wie Kortschnois Paranoia bei seinem WM-Kampf gegen Karpow, dieser habe einen Hypnotiseur engagiert, der im Publikum sitze und ihn parapsychisch manipuliere. Bobby Fischer, der zu einigen seiner WM-Partien gar nicht erschien, andere mit großer Verspätung doch noch zu seinen Gunsten entschied, um sich nach Gewinn des Titels komplett zurückzuziehen, gilt bis heute als die größte mythische Gestalt des Schach – und manche argwöhnen, dass sich sein Ruf als „bester Spieler aller Zeiten“ mehr den Partien verdanke, die er nicht gespielt hat, als seinen tatsächlichen Siegen.

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Beim legendären Weltmeisterschaftskampf zwischen Kasparow und Karpow 1984/1985, einem der wahrscheinlich spektakulärsten Turniere der Schachgeschichte, zeigte sich zudem, was es heißt, dass der Geist des Schachspielers in einem Körper täglich über viele Stunden am Brett sitzt – und dass dieser Körper auch ein politischer Körper ist: Nachdem der Herausforderer Kasparow in der ersten Phase zahlreiche Partien hatte abgeben müssen und fast aussichtslos 0:4 zurücklag, gelang es ihm das eigene Spiel über eine lange Serie von Remis (die nicht zählten) zu stabilisieren. Je länger das Turnier dauerte, desto mehr litt der zarte und gesundheitlich anfällige Karpow unter Konditionsproblemen, und nach einem zähen Ringen, das sich über Wochen erstreckte, begann er zu verlieren, so dass Kasparow aufholen konnte – woraufhin der Kampf im Februar 1985 nach 48 Partien beim Stand von 3:5 für Karpow unter wütendem Protest Kasparows und seiner Anhänger (und unter bis heute ungeklärten Umständen) abgebrochen wurde. Bei der Wiederholung des Turniers im Oktober 1985 mit veränderten Regeln (die den amtierenden Weltmeister leicht begünstigten), gewann Kasparow in einer bravourösen Entscheidungspartie mit 13:11.

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Dabei wurden die beiden Kontrahenten immer mehr zu Symbolfiguren in der politischen Auseinandersetzung, die sich zeitgleich vollzog: Der bleiche Russe Karpow mit seinem sauber gestriegelten dünnen Haar und seinem meist ausdruckslosen Gesicht schien die alte Sowjetunion mit ihren Apparaten und ihrem Filz, ihren mechanischen Funktionären und ihrer russischen Elite zu repräsentieren. Seine defensive Spielweise stand für ein System, das seit langem nichts mehr tat als sich zu verteidigen. Der temperamentvolle, aufmüpfige schwarzlockige Aserbaidschaner Kasparow dagegen, der ein offensives, zuweilen unkonventionelles Angriffschach spielte, avancierte zur Galionsfigur von „Glasnost“ (und sein Wechsel in den politischen Widerstand gegen Putin nach dem Karriereende erscheint von daher nicht überraschend).

Kasparows vielleicht schönster Sieg gegen Karpow 1985 (mit Schwarz!) zum Nachspielen

Man unterscheidet im Schach eine strategische und eine taktische Dimension. Es gibt sozusagen zwei zeitliche Aufmerksamkeitsradien – einen weiten, der sich auf die gesamte Partie erstreckt, und einen engen, der auf wenige Züge begrenzt ist. Hobbyspieler haben schon Probleme, einen oder zwei Züge im Voraus zu berechnen. Großmeister schaffen vier, fünf, sechs oder mitunter mehr, doch auch sie können keine längeren Entwicklungen zwingend determinieren, weshalb für die langfristigen, strategischen Entscheidungen nur vage Anhaltspunkte bleiben: Man weiß, dass bestimmte Figuren auf bestimmten Feldern prinzipiell vorteilhaft positioniert sind – ob sie ihr Potenzial jedoch entfalten können, entscheidet sich erst in der konkreten späteren Stellung. Es gibt mittlerweile sehr ausführliche Eröffnungs-Bibliotheken, deren Varianten sich immer weiter ins Mittelspiel erstrecken – nur selten jedoch bis zu einer klaren Gewinn- oder Verluststellung führen. Welche Strategie man letztlich wählt, hängt mit den eigenen Vorlieben oder Abneigungen zusammen, mit dem persönlichen Stil, mit dem, was man über die Stärken und Schwächen des Gegners zu wissen meint, oder einfach mit Tagesform und Intuition.

Jeder Zug ist also im Hinblick auf diese beiden Aufmerksamkeitsradien und ihre jeweiligen Kriterien zu prüfen: Befindet er sich im Einklang mit der gewählten Strategie, eröffnet er Potenziale, schafft eine aktive oder sichere Stellung? Und nutzt er die konkreten Optionen, den Gegner mit den folgenden Zügen in Schwierigkeiten zu bringen, Figuren zu schlagen oder den König anzugreifen, bzw. sichert er die eigenen Figuren und beugt direkten Angriffen des Gegners wirksam vor?

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Matt in zwei Zügen.

Wo nun zeigt sich die Virtuosität? Sie zeigt sich innerhalb des engeren, taktischen Radius, in der konkreten Situation, innerhalb weniger Züge, auch wenn die strategische Dimension, der Fokus auf die gesamte Partie, dabei niemals außer Acht bleibt. Die Bravourszene der Virtuosität im Schach ist die Kombination, vor allem dort, wo sie zum Sieg führt, wo der weite Horizont der Partie und der enge Horizont der aktuellen Stellung auf einmal überraschend zur Deckung kommen.

Der meisterhafte Schachspieler beweist sich als solcher zunächst darin, dass er diesen Übergang sieht. Ein Durchschnittsspieler, ja selbst ein solider Profi, der seine Partien mit Ausdauer und gleichmäßiger Wachsamkeit gewinnt (der, wie der Schachvirtuose und Spötter Tartakower zu sagen pflegte, deshalb gewinnt, weil er den vorletzten Fehler macht), wird die Gelegenheit zur virtuosen Kombination erst gar nicht erblicken. Denn es gehört zur virtuosen Kombination, dass sie schwer zu sehen ist, dass sie mit einem ungewöhnlichen, anscheinend widersinnigen oder sogar deutlich nachteiligen Zug beginnt. In ihren spektakulärsten Varianten beginnt sie mit einem Opfer – und den Gipfel des Spektakulären stellt wiederum die Opferung der wertvollsten Figur dar: der Dame. Man opfert die lebenswichtige Dame – und gewinnt trotzdem. Psychoanalytiker hätten dazu gewiss etwas zu sagen.

Bei der virtuosen Kombination geht es nicht nur darum, schnell zu gewinnen statt langsam, in vier oder fünf Zügen Matt zu setzen, statt Figur um Figur abzutauschen, um am Ende mit dem entscheidenden kleinen Übergewicht oder Tempovorsprung beim Vorrücken der Bauern dazustehen. Es kommt darauf an, elegant oder bravourös zu gewinnen – durch eine originelle, außergewöhnliche und riskante Folge von Zügen. Das Risiko steht hier nicht im Widerspruch zur Logik; es ist sozusagen die theatralische Dimension ihres Sich-ins-Werk-Setzens: Nur und genau mit diesen Zügen war in dieser Stellung ein Matt (oder ein Gewinn) zu erreichen. Jede Schwäche, jede Abweichung von dieser Sequenz hätte den zum Greifen nahen Sieg verspielt, und wenn die Kombination mit einem Opfer oder einem strategisch eigentlich ungünstigen Zug beginnt, bedeutet das Verspielen der Chance in der Regel tatsächlich den Verlust der Partie oder einen verzweifelten Kampf um das Remis.

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Matt in zwei Zügen.

Das Risiko ist also durchaus real, denn das „logische Denken“ des Schachspielers steht immer unter Zeitdruck und unter dem Einfluss zahlreicher höchst kontingenter Faktoren. Es kann stets passieren, dass eine für todsicher gehaltene Siegeskombination plötzlich, nachdem es bereits zu spät ist (denn: „wie berührt, so geführt“), ein winziges Loch offenbart. Reicher noch als an brillanten Kombinationen ist die Schachliteratur an Beispielen dafür, dass ein Angreifer eine nahe liegende Erwiderung übersah oder dass der Kontrahent seinerseits mit einem überraschenden Gegenzug aufwartete. Richtig zu rechnen bedeutet unter den Bedingungen einer Schachpartie eine Performance, die nicht einfach in der Anwendung gelernter Methoden bestehen kann (so agiert der Computer, und darin ist er um Vieles besser als die besten menschlichen Spieler). Das ‚Rechnen’ bedarf hier einer komplexen und labilen Verbindung von logischem Kalkül, visionärer Intuition, die zuweilen an Clairvoyance grenzen mag, oder auch einfach Frechheit – und Glück. Was letztlich die kombinatorische Virtuosität ausmacht, bleibt umso mysteriöser, als auch der Spieler selbst nachher nicht unbedingt klar angeben kann, was er in den Minuten vor dem entscheidenden Zug „gedacht“ hat (und vielleicht auch kein Interesse hat, es mitzuteilen).

Fortsetzung folgt

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