Zur Virtuosität des Lesens. Ein Dialog (1)
In der Literaturkritik (weniger in der Literaturwissenschaft) findet man das Adjektiv „virtuos“ ab und zu im Zusammenhang mit einem Autor:
➢ Ein Autor schreibe virtuos (das betrifft seinen Stil, die Art und Weise, wie er Wörter auswählt und sie zu Sätzen verkettet).
➢ Ein Autor erzähle virtuos (das betrifft den Umgang mit „Handlungsfäden“ und ihre Verkettung zu Geschichten oder narrativen Geweben, den Umgang mit Erzählperspektiven und den Dramaturgien des Erscheinens und Verschwindens oder Verborgenbleibens, die sie gestatten, den Umgang mit Zeiten und Orten – allgemein die Komplexität, Feinheit und Leichtigkeit der Verknüpfung, des narrare).
➢ Ein Autor liefere virtuose Beschreibungen (was wohl nicht einfach heißt: ausführliche, von Details überquellende Beschreibungen, sondern meint, dass die Sprache als Medium des Beschreibens sich von der Logik der Abbildung emanzipiert, ihre eigene Freiheit zum Produzieren von sinnlichen Eindrücken, von deren Verfeinerung und Vervielfältigung entfaltet, statt bloß mit Worten einen Anblick, einen Klang, einen Geruch oder eine Tastempfindung wiederzugeben – virtuos beschreibend ist die literarische Sprache als souveräne Instanz, die das Sinnliche regiert).
➢ Ein Autor manipuliere seine Leser virtuos (der Autor als gerissener Lügner, als Betrüger oder Fälscher, der mit der kritischen Wachsamkeit des Lesers konkurriert und zugleich mit dessen Begehren kooperiert, diese Konkurrenz zu verlieren).
In all diesen Fällen funktioniert die Zuschreibung „virtuos“ mehr oder weniger unproblematisch. Man weiß ungefähr, was gemeint ist, oder meint es zu wissen.
Es wäre sicher interessant, die Prozesse des Verstehens zu untersuchen, das hinter dieser Verständlichkeit steht, und die Evidenzen an ihrem Ausgangspunkt aufzuspüren: Übertragungen von den etablierten Virtuosenkünsten Musik, Tanz und Theater auf die Literatur – oder Verschiebungen zwischen dem Poietischen und dem Performativen (die Literatur gilt uns bis heute hauptsächlich als herstellende, Werke schaffende Kunst, aber im Schreiben selbst, sofern es sich während des Produktionsprozesses wesentlich als Bewegung erfährt und beim Lesen wiederum so erlebt wird, gibt es zweifellos eine Dimension von Performance, auf die wir im Folgenden öfter zurückkommen werden).
Wir wollen uns aber hier mit der Virtuosität des Lesens beschäftigen – mit der Frage, ob Lesen virtuos sein kann, ob sich virtuos lesen lässt, ob es sinnvoll sein kann, von einer Virtuosität des Lesens oder der Virtuosität von Lesern zu sprechen, und wenn ja, aus welcher Perspektive und mit welchem Erkenntnisinteresse: Wäre eine Virtuosität des Lesens ein Gegenstand für die Literaturwissenschaft? Oder führt Lesen, wenn wir es als etwas auffassen, was virtuos sein oder virtuos werden kann, aus dem Bereich dessen, was wir Literatur nennen und was die Literaturwissenschaft untersucht, heraus?
Das Adjektiv „virtuos“ mit dem Bezug auf das Lesen zu gebrauchen, leuchtet intuitiv weitaus weniger ein als Formulierungen wie „schreibt virtuos“, „erzählt virtuos“ usw.
Warum?
allesfliesst - 12. Jul, 13:25
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