»Nur Krüppel werden überleben« lautet der Titel eines Kapitels aus Peter Sloterdijks Pamphlet der kulturellen Selektionsvorteile durch Selbstdisziplin Du mußt dein Leben ändern. So gruselig das Buch, ist doch die Verbindung zwischen dem körperlich Behinderten und dem Virtuosen ein Topos, für den nicht nur der von Sloterdijk angeführte armlos geborene Geiger Carl Herman Unthan ein Beispiel ist. Hier eine neuere Version im Kontext einer politischen Berichterstattung über Russland vom letzten Jahr aus dem Neuen Deutschland:
Obwohl Popmusik bereits durch ihren Namen eine Publikumsorientierung signalisiert, gab es in ihren Szenen stets eine Anzahl von Musikern, die als „Musiker-Musiker“ galten. Sie wurden von anderen, teilweise sehr populären Musikern hoch geschätzt, ja verehrt, jedoch selbst nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Dabei handelte es sich zumeist keineswegs um Künstler, die eine besonders schwer zugängliche, sich avantgardistisch oder exzentrisch gebende Musik spielten, sondern im Gegenteil um solche, bei denen ein stärker technisch geprägter Zugang zu einer bestimmten Musikrichtung verhinderte, dass sie eine allzu originelle Interpretation des Genres vorlegten oder sich vom Genre lösten.
Diese Musiker-Musiker waren zu sehr damit beschäftigt, auf immer gekonntere Weise immer das Selbe zu spielen, um es zu Aufsehen erregenden Neuschöpfungen oder Stilmixes zu bringen. Sie produzierten eine Art von Blues, der eben genau das war: rauer, trockener, punktgenau trauriger Blues; eine Art von Singer-Songwriter-Folk, der exakt auf der Spur einer bekannten, von vielen Vorgängern ausformulierten Melancholie entlanglief; eine Art von schnörkellos geradlinigem Rock, der das wohldefinierte Gitarrenriff als organische Einheit des Songs behandelte, als sei diese Einheit historisch niemals zerbrochen.
Sie waren in gewisser Weise zu konservativ, zu traditionalistisch eingestellt, um die etablierten Konventionen eines Genres durch Neuerungen zu verraten oder sich am Spiel der De- und Refiguration zu beteiligen, das ‚Genre’ zur Bezugsgröße einer postmodernen popkulturellen Ästhetik hat werden lassen.
Sie agierten dabei als Interpreten schon zu sehr als Kenner, um mit dem, was sie machten, noch zu Laien zu sprechen (und ein Publikum findet sich immer im Vorfeld eines laienhaften Staunens, in einer Erwartung des Ereignisses, welche die vereinzelte Kennerschaft seiner Mitglieder gemeinsam suspendiert, d.h. in einem Augenblick, wo der verfeinerte Sinn für das Selbe dem Gemeinschaftsdruck des Überraschtwerdenwollens durch etwas Anderes nachgibt). Wer die besondere Qualität des Spiels dieser Musiker erfahren wollte, musste über ein ähnlich hervorragendes Know-who und Know-how des Genres verfügen wie sie selbst. Und auch dann gab es keine Abweichungen zu hören, sondern eine unvergleichlich delikatere, präzisere Art, die Musik genau so zu spielen, wie sie auf der Höhe ihrer immanenten Ausdifferenziertheit, in ihrem Namen gespielt werden musste.
Mit anderen Worten, diese Musiker-Musiker waren ein besonderer Typ von Virtuosen: unpopuläre Virtuosen, die ihr Können nicht auf einer öffentlichen Szene ausstellten, indem sie das Mehr an technischer Meisterschaft und Sophistication in einer für ein halbgebildetes Publikum nachvollziehbaren Form sichtbar machten.
Die Popularität des Star-Virtuosen in der Musik hängt, wie Jankélévitch bemerkt hat, sehr viel eher vom Gestischen und Visuellen in seiner Performance ab als vom Klangereignis: Das Publikum braucht das Außergewöhnliche gar nicht zu hören, da jeder es sehen kann (am Wirbel der Hände über den Klaviertasten, am Veitstanz des Geigers, an den Verrenkungen von Unterleib und Zungenspitze auf den Gitarrensaiten).
Die Virtuosität dieser Musiker hielt sich dagegen ganz in der Dimension des Hörbaren verschlossen, weshalb sie selbst durch ihr Spiel nicht als Virtuosen in Erscheinung traten, keine gestische Figur hervorbrachten, die ihre musikalische Produktion als virtuose Performance auszustellen erlaubt hätte.
Die Stars holten sie sich gern als Studio-Musiker für ihre Aufnahmen, da die Kombination von Brillanz und Unscheinbarkeit sie zu idealen Mitwirkenden machte. Mitunter trat einer dieser diskreten Virtuosen im Vorprogramm auf der Tournee eines Stars auf; häufiger jedoch las man ihre Namen nur in den Credits eines Albums bzw. erfuhr von ihnen erst dort, wo sie eine andere Gruppe von Experten, die Musikjournalisten, beeindruckt hatten, die ihre Bewunderung in einer massenhaft rezipierbaren Weise an das Publikum weitergaben, ohne dass dies wirklich zu einer Popularisierung der Musiker führte.
In der gesamten Musik, ja in allen Künsten, die in der Neuzeit einen Anspruch auf Autonomie angemeldet haben, überlagern sich zwei Aufmerksamkeitsfelder: eine Szene, auf der die Künstler einander gegenseitig wahrnehmen, und eine, auf der sich jeder von ihnen einem Publikum präsentiert.
Georg Franck hat darauf hingewiesen, dass ästhetische Autonomie sich sozial realisiert, wo Künstler zunächst auf die Arbeiten anderer Künstler reagieren und damit rechnen, mit ihrer eigenen Arbeit von anderen Künstlern rezipiert zu werden. Das Publikum ist hier (nur) die Figur eines Dritten, der hinzukommt.
Lässt das Konkurrieren um die Gunst eines Publikums die Künstler wie Unternehmer erscheinen, die auf einem gemeinsamen Markt mit ähnlichen Produkten um Abnehmer kämpfen, ist das Aufmerksamkeitsfeld, das die Sphäre der Produktivität konfiguriert, doch nicht einfach ein primärer Markt, der dem sekundären vorgeschaltet wäre.
In seiner Beziehung zu anderen Kulturproduzenten geht es dem Kulturproduzierenden nicht in derselben Weise um Berühmtwerden, Akkumulation eines Maximums an Beachtung, Etablierung möglichst asymmetrischer, profitabler Beziehungen, bei denen er mehr Beachtung und Anerkennung bekommt, als er ausgibt. In der Ökonomie der Anerkennung von Produzierenden durch Produzierende nimmt die ‚Wertschöpfung’, bei der es nicht nur um den Status, sondern um die (Re )Produktion von Produktivität geht, andere und durchaus komplexere Formen an als auf Absatzmärkten.
In der Popmusik werden die Differenzen zwischen den beiden Aufmerksamkeitsfeldern besonders deutlich, nicht zuletzt deshalb, weil der künstlerische Autonomie-Anspruch sich hier eher in der technischen Dimension des Performens realisiert hat als durch die Abtrennung eines Werkes von den sozialen und ökonomischen Kriterien seiner Distribution und Verwendung.
Die Produktion von Popmusik, die Volks- und Kunstmusik gleichermaßen supplementiert, hat kaum auf ein „interesseloses Wohlgefallen“ als Rezeptionshaltung spekuliert, sondern ihre ästhetischen Ansprüche in die Evidenz ihrer Wirksamkeit eingeschrieben. Sie hat ihr Produzieren deutlich bewusster als die bürgerlichen Künste als strategische Auseinandersetzung mit der Vielfalt ihrer möglichen Gebrauchsweisen verstanden.
Obgleich es auch in der Popmusik Resonanzen der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gab und immer wieder einmal Bands die Forderung erhoben haben, dass ihre Musik als „richtige Kunst“ gewürdigt, d.h. als Werk aus der Ökonomie der Verwertung geborgen werde, waren es nicht diese Forderungen, die der Popmusik künstlerische Autonomie verschafft haben, sondern die vehemente Ausdifferenzierung jenes Aufmerksamkeitsfeldes zwischen den Produzierenden, in der das Technische, die Frage des How to perform die maßgebliche Rolle spielte.
Von den „rockistischen“ Figuren des Mucker-Daseins bis zu Elektronik-Gefrickel und Turntablism kann man das Technische als unmittelbare Triebkraft der ästhetischen Autonomisierung erkennen – und zwar ein Technisches, das von Anfang die Verschränkung von Spieltechnik (Umgang mit Instrumenten) und Sozialtechnik bedeutete.
Das begann bereits beim Lernen des Instruments. Im Gegensatz zur klassischen Musik, wo die Ausbildung seit dem 19. Jahrhundert stark institutionalisiert ist, stellt das Lernen von Pop-Instrumenten einen eminent sozialen Prozess dar und ist in eine relative wenig geregelte Interaktion zwischen Produzierenden eingelassen.
Man lernt einerseits, während man bereits in einer Band spielt, so dass die technischen Fortschritte sich zumindest zum Teil in einer kollektiven Dynamik ergeben (mit der Konsequenz, dass Instrumente und Spieltechniken im Pop auch schon vor der Epoche des Sampling füreinander durchlässiger waren als in der Klassik), und andererseits in einem realen oder virtuellen Mitvollziehen des Spiels von anderen, bekannteren Spielern.
Professionalisierung vollzieht sich nicht durch das Erlangen institutioneller Qualifikationen (obwohl die Musikhochschulen mittlerweile begonnen haben, Pop in ihren Ausbildungskanon zu integrieren), sondern im Zuge sich wechselseitig steigernder Anerkennung. Ob ein Popmusiker als professionell gilt, ist bis heute eine Frage, die sich ausschließlich auf seinen sozialen Status innerhalb der Szene(n) von Musikern beziehen kann, zu der (denen) er gehört.
Auch ein großer Publikumserfolg mit einer Veröffentlichung befreit eine Popband nicht vom Verdacht des Dilettantismus – im Gegenteil: je weiter sich die ökonomischen Strategien des Star-Machens perfektionieren und das Startum von den technischen Leistungen als Musiker ebenso abkoppeln wie von der schöpferischen oder persönlichen Originalität, desto prekärer wird der professionelle Status der Erfolgreichen. Professionalität ist in der Popmusik noch weitaus mehr als in anderen Bereichen eine Sache des Rufs; und der Ruf ist weitaus mehr als woanders das Substrat der Fähigkeit, andere renommierte Musiker für das eigene Spiel zu begeistern, ihnen als Figur ihrer Liebe zur Musik zu erscheinen, die ihr mehr oder weniger dominantes Streben nach dem Publikumserfolg von einer ursprünglichen Motivation abtrennt.
Ein Musiker-Musiker mit dem Ruf eines Profis gibt den erfolgreicheren anderen, die ihm Anerkennung zollen‚ etwas vom Authentischen zurück, von der unkompromittierten Wirklichkeit eines Performens, das glücklich macht: von jenem Glück des Selben, das sie für andere Versprechen geopfert haben.
Zu den Figuren, die ein Diskurs über das Virtuose stets mit aufruft, gehört das Wunderkind, ohne dass jedoch ganz klar wäre, wie es mit diesen kleinen Zuviel-Könnern steht. Der Fünfjährige, der auf der Geige brilliert, verkörpert schon etwas, das für die Dynamik des Virtuos-Werdens wesentlich ist: Man kann es zur Virtuosität bringen, ohne ›Reife‹ zu besitzen. Man kann sofort damit anfangen und sehr schnell sehr weit damit kommen. Die Zeit des Virtuos-Werdens ist eine durchaus andere als die der Reifungsbiographie. Wer virtuos wird, vollzieht nicht die richtigen Entwicklungsschritte im vorgesehenen Alter, sondern richtet seine Steigerung in einem ersten Augenblick ein. Und er verbleibt in diesem Augenblick, während er seine Performance weiter und weiter steigert – die Bahn der Steigerung führt niemals aus dem Verfrühten des ersten Erfolges heraus, weshalb der Virtuose später, wenn die anderen ihre Fähigkeiten entfaltet haben, auf der einsamen Höhe seiner Spitzenperformance doch wie ein Zurückgebliebener anmuten kann. An den Glanz des wunderbar begabten Kindes erinnert das Kindische jenes Glanzes, auf dessen Erzeugung der Erwachsene sich einzig versteht.
»Wahre Virtuosen«, möchte man daher rasch betonen, sind mehr als Wunderkinder. Denn der populistische Kult um die Wunderkinder scheint all das ans Licht zu zerren, was an der Virtuosität selbst im Verdacht steht, falsch zu sein: Ihre Leistungen entwertet das Voreilige der Effekte. Das, was man Frühreife nennt, wartet stets darauf, vom regulären Vergehen der gemeinen Zeit als einziger Effekt entlarvt zu werden. Adorno verglich die frühreifen Menschenwesen mit Treibhauspflanzen: »Sie sind ein Ärgernis der naturhaften Ordnung, und hämische Gesundheit weidet sich an der Gefahr, die ihnen droht, so wie die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negation der Gleichung von Erfolg und Anstrengung mißtraut. In ihrer inwendigen Ökonomie vollzieht sich, bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die man ihnen stets gönnte.« (Minima Moralia, Nr. 101)
Die standardisierte Zeitlichkeit einer »altersgemäßen Entwicklung« setzt sich, so scheint es, schließlich gegen das Irreguläre durch, indem das Leben selbst für das Mehr, das es anfangs gewährte, etwas zurückfordert: Bazzini mit fünf kostet entweder eine verarmte, durch die einseitige Konzentration auf das Instrument und die unzähligen Stunden des Übens verkrüppelte Persönlichkeit, oder (und hier liegt dieselbe Kalkulation zugrunde) sie kostet die ›wahre Kunst‹, die Fähigkeit, mit fünfundzwanzig etwas Besseres, Tieferes, künstlerisch Anspruchsvolleres als Bazzini zu spielen. »Das Leben«, d.h. eine bestimmte Ökonomie der Zeit, hat in diesen bürgerlichen Vorstellungen vom Künstlertum die Aufgabe, den Frevel des Verfrühten zu rächen. Mehr zu können, als die geltenden sozialen Standards für möglich annehmen – das darf, ja soll es geben, solange es sich an das Modell eines Pakts mit dem Teufel hält, für den der Profitierende seine Seele hergibt.
Was geschieht aber mit dieser so soliden bürgerlichen Ökonomie eines Ausgleichs von Mehr-Leistung und Mangel heute, da die neoliberale Reformpädagogik sich offenbar anschickt, das hochbegabte Kind zu einem sozialen Faktum zu erklären – also gerade jenen Bruch mit der »naturhaften Ordnung« zu naturalisieren?
Die ökonomische Direktive dieser Pädagogik, der man an »fortschrittlichen« Privatschulen mit glänzenden PISA-Ergebnissen folgt, lautet, das Potenzial eines Schülers bis zur Neige auszuschöpfen. Zu diesem Zweck ist man bereit, Standards wie ein einheitliches Notensystem oder die fixe Einteilung in Klassenstufen aufzugeben. An die Stelle der Standardisierung soll ein radikaler Individualismus treten, der jeden Lernenden nach seinen spezifischen Möglichkeiten fördert und ihm hilft, das Maximum dessen zu erreichen, was er (oder natürlich: sie) zu erreichen vermag
Die Individualisierung findet hier in der Dimension des Möglichen statt. Die Pädagogik definiert kein Leistungsniveau mehr, von dem sie annimmt, dass alle es erreichen können. Sie verlegt sich darauf, in einer aufwändigen persönlichen Einzelbetreuung das individuelle Möglichkeitsprofil eines jeden Schülers zu ermitteln. Es soll hinsichtlich der Leistung keine normalen Kinder mehr geben. Statt die Leistungen des Einen gegen die der anderen zu rechnen, verrechnet man nun jeden Leistenden mit sich selbst. An die Stelle einer Ordnung von Norm und Überschreitung (nach oben oder nach unten) tritt eine freie Dynamik der Normalisierung, die Gerechtigkeit verspricht, weil sie das Zu-viel ebenso wenig kennt wie das Zu-wenig, weil sie keine Abstände zwischen Wirklichem und Möglichem, sondern nur Verteilungen registriert, in denen Wirklichkeit und Möglichkeit immer schon miteinander zu einem einzigen Wert verschmolzen sind, da das Mögliche ebenso individualisiert ist wie das Wirkliche, sich dem Wirklichen angepasst hat.
Die Hoffnungen, die Eltern und Politiker auf diese Reformschulen projizieren, gehen darauf aus, dass man dort in allen oder jedenfalls in vielen die Wunderkinder entdecken wird, deren außerordentliche Talente bislang in den konventionellen Bildungseinrichtungen keine Beachtung fanden und verkümmerten – und die Schulen leben derzeit davon, dass sie diese Hoffnungen entsprechend manipulieren, sich als institutioneller Zugang zum Erhofften präsentieren. Doch tatsächlich kündigt die neoliberale Pädagogik nicht mehr an, als dass sie jedes Kind zu dem machen wird, was es ist. Es wird keine neue Ära des Wunderbaren anbrechen, sondern die alte, noch durch die Widersprüche und Paradoxien der immanenten Auflehnung des Menschen gegen die Natur bestimmte, definitiv an ihr Ende gelangen. Die Naturalisierung von Leistung bewahrt vor den negativen Konsequenzen des Unnatürlichen. Sie tilgt jedoch im selben Zug sämtliche Spuren jenes Menschlichen, das nur als Über-Natürliches, sich über die Bedingungen der eigenen Existenz Hinwegsetzendes Geltung beanspruchen konnte. Das heißt, sie tilgt die Spuren des Virtuosen als einer Berufungsinstanz für die Nichtübereinstimmung eines Menschen mit dem Leben seiner Spezies. Die neuen Virtuosen werden Bio-Sozio-Virtuosen sein: Vertreter ihrer Art bis in die abwegigsten Ausbildungen von Fähigkeiten hinein, deren evolutionärer Nutzen sich nicht einmal mehr in einem Beitrag zum Leben der Menschheit, sondern unmittelbar im eigenen Leben erweist. War das Wunderkind noch ein Symbol der Verausgabung (ihrer Pracht und ihrer Gewalt), gibt sich das seinen Möglichkeiten entsprechend geförderte hochbegabte Kind als Ressource, Produktionsmittel und Produkt einer Bio-Ökonomie zu erkennen, die auf keinen Ertrag zu verzichten gewillt ist, am wenigsten auf das verausgabte Mehr.
Für gewöhnlich findet man jemand anderen virtuos – nicht sich selbst.
„Das ist virtuos!“ – diese Zuschreibung ist verbunden mit einer Aufführungssituation, sei es auf einer Bühne, an einem öffentlichen Ort oder auf intimeren, aber niemals völlig privaten Alltagsszenen (selbst wenn ich meine Geliebte virtuos finde – sie kombiniert z.B. virtuos das Deutsche und Japanische zu einer eigenen Sprache –, öffnet dieses Urteil „virtuos“ den Raum unseres Zusammenseins für einen Augenblick und lässt eine gewisse Öffentlichkeit herein).
Aber wie erlebt der Virtuose selber das, was er tut?
Gibt es (wenn man einmal die Bescheidenheit weglässt, sich von den sozialen Idiomen der Selbstbeschreibung löst) nicht Momente, in denen man durchaus das Gefühl hat, virtuos zu sein? Wo man sich gewissermaßen selbst von außen beobachtet, sich als Akteur an einer imaginären inneren Rampe stehen und...das tun sieht?
Jeder kennt vermutlich das Erlebnis von Geläufigkeit: Man führt etwas oftmals wiederholt aus, und irgendwann kann man es tun, ohne sich weiter darauf konzentrieren zu müssen. Es „geht von selbst“. Vielleicht stellt das den Einsatzpunkt für die Selbsterfahrung von Virtuosität dar. Die eigene Aufmerksamkeit wird damit frei für etwas anderes.
Wenn ich einen Vortrag zu oft übe (und zwei oder drei Mal ist mitunter schon ‚zu oft’), kann es beim Halten passieren, dass ich mich innerlich halb von mir selbst abtrenne, während ich spreche. Ich verfolge die Bewegung meiner Rede schräg von der Seite. Es ist weniger ein Sich-sprechen-Hören als ein Sich-reden-Sehen – die Sprache wird ganz Bewegung.
In einer schlechten, z.B. übermüdeten Verfassung stehe ich nur da und lasse den Vortrag ablaufen, erstaunt darüber, dass es trotzdem nach ganz normalen, sinnvollen Sätzen klingt, obwohl ich nicht dabei bin. An einem guten Tag dagegen empfinde ich dieses Daneben-Stehen als eine besondere Leichtigkeit und Freiheit – als Freiheit, etwas zusätzlich zu machen: Ich kann dann etwa beim Aussprechen sanft über das Gesagte hauchen. Oder Pausen einfügen, ohne anzuhalten, sie dem Redestrom wirklich hinzufügen.
Das wäre von einem Schauspieler ein geläufiges Statement. Für einen Wissenschaftler ist es dagegen, wie man sich denken kann, kein durchweg angenehmes, sondern ein sehr ambivalentes Gefühl. Es euphorisiert. Aber der Spaß am Zusätzlichen (und daran, dass das Auditorium darauf reagiert) täuscht nicht darüber hinweg, dass dieses Mehr nur möglich ist, weil ich auf der elementaren Ebene den Anschluss an den Sinn meiner Worte verloren habe. Ich bin gerade virtuos – denn ich denke nicht, was ich sage, denke es mit dieser Wiederholung des Wortlauts nicht noch einmal, sondern beschäftige mich ausschließlich damit, wie sich die Performance des Redens steigern lässt. Und entsprechend verlegen ist meine Haltung gegenüber dem Publikum: Jemand in mir will, dass alle es merken. Und jemand hofft, dass niemand es merkt.
Kultivierte Form von Langeweile, die sich im Einklang mit der allgemeinen Organisation von Tätigkeiten und der Zirkulation von Interessen in einer Gesellschaft befindet. Findet an einem Ort statt, der zumeist eigens für das Nichts- oder Wenigtun eingerichtet wurde - z.B. in einem Café, auf einer Parkbank, auf dem Balkon oder in einem Sessel, wo man auch lesen könnte. Lesen gehört überhaupt zu den populärsten Techniken, um Langeweile zu pflegen: man kann wunderbar lesen und sich langweilen zugleich, während es anstrengt, sich beim Musikhören oder Anschauen eines Films zu langweilen. Selbst im Theater, wo es oft langweilig ist, wollen das Sich-Langweilen und die Wahrnehmung dessen, was auf der Bühne geschieht, in der Regel keine entspannte Gleichzeitigkeit finden. Langeweile im Theater ist daher zumeist ungepflegt.
Negativ gesteigerte, sich ab einem gewissen Punkt fast unumkehrbar selbst verstärkende Langeweile. Gefühl von Schwere, Leere und Sinnlosigkeit. Stellt sich ein angesichts des völligen Ausbleibens von Erregung durch Ereignisse - infolge zu großer Erwartungen (tödliche Langeweile des Pubertierenden) oder weil wirklich gar nichts passiert (tödliche Langeweile des vereinsamten Rentners). Stellt sich auch ein bei einer andauernden, ununterbrochenen Folge gleicher Ereignisse, wie extrem diese auch seien. Die Situation im Irak z.B. ist tödlich langweilig, vermutlich selbst für die Iraker.
Der Affe auf diesem Bild wurde durch tödliche Langeweile verrückt:
Nicht einfach vorzustellen, da Langeweile sehr fest mit (wohliger oder deprimierender) Schwere assoziiert ist, Virtuosität hingegen ebenso fest an Leichtigkeit geknüpft scheint.
Also zwei Möglichkeiten:
a) Eine Langeweile, die leicht wird. Und dies nicht zufällig, sondern weil man auf technisch versierte Weise damit umgeht (Virtuosität hat ja eigentlich immer mit Technik zu tun). Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich anfing, dieses Blog einzurichten. Es war ein Zustand gepflegter Langeweile - Sonne, sonntägliche Trägheit, guter Kaffee, das Macbook auf meinem Schoß. Nachdem ich den Gedanken, ernsthaft zu arbeiten, aufgegeben hatte, den, zur Zerstreuung im Netz zu surfen, ebenso, entstand ein Schwebezustand, der mir das Gefühl gab, gleichermaßen alles wie nichts tun zu können. Dann meldete ich das Blog an, meisterte ein paar kleinere Schwierigkeiten, ohne dass die Langeweile dadurch aufhörte. Sie fing eher an...zu schwingen (oder so).
b) Eine Virtuosität des Schweren. Wer weniger erschöpft ist als ich nach dem Schreiben von Abschnitt a), möge diesen Gedanken bitte entwickeln.
Ach, ja - zwei Dinge, die laut Internet virtuos langweilig sind:
Dieses Blog ist eine Sammelstelle für virtuose Performances. Jeder kann Beiträge posten. Schreibt, was oder wen ihr virtuos findet. Und ladet Bilder oder Videos hoch, wenn ihr mögt.