Virtuoses Überwältigtsein - Überwältigende Virtuosität
Hier kommt ein Beispiel für die kulturindustrielle und nationalpolitische Verheizung von Virtuosität - aber auch für das Überwältigtsein von, für die Lust an und für den Schrecken vor der Virtuosität:
Tatjana Romanowska - 20. Jul, 00:08
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allesfliesst - 20. Jul, 14:27
o ja, ich finde, das ist ein sehr aufschlussreiches beispiel für das, was heute mit virtuosität passiert und wofür virtuosität benutzt wird. bei uns sind diese casting shows ja (noch) nicht so explizit nationalistisch (vermutlich auch weil die entsprechenden deutschen songs fehlen, die man da singen könnte). aber man spürt auch bei den deutschen shows, wie über so etwas unverdächtiges wie musik und tanz ein soziales und ökonomisches bewertungssystem etabliert wird, das die menschen dazu erzieht, sich von kindheit an als "performer" zu verstehen und sich im hinblick auf den erfolgs-effekt zu optimieren. disziplinierung durch überwältigung. ich frage mich, wie ich wohl reagiert hätte, wenn mir mit 11 jahren vor brüllender menge jemand gesagt hätte: "ändere deine frisur, besorg dir andere klamotten und andere schuhe - und du wirst gewinnen!"
was ich an der musik und dem gesang des mädchens bemerkenswert finde (denn es ist ja fast immer dieser soul-pop, der in den casting shows den ton angibt): es gibt da einerseits so eine aggressivität und schmetternde kraft, geradezu eine technisch-musikalische herrschaftsgeste (besonders in dem lang gehaltenen ton); und andererseits so etwas weinerliches, fast verzweifeltes, so als sei die sängerin selbst überwältigt von dem, was ihr mit dem singen wiederfährt. und dieses kippen zwischen technischer herrschaft und emotionaler unterwerfung ist vielleicht auch typisch für diese art von virtuosität.
was ich an der musik und dem gesang des mädchens bemerkenswert finde (denn es ist ja fast immer dieser soul-pop, der in den casting shows den ton angibt): es gibt da einerseits so eine aggressivität und schmetternde kraft, geradezu eine technisch-musikalische herrschaftsgeste (besonders in dem lang gehaltenen ton); und andererseits so etwas weinerliches, fast verzweifeltes, so als sei die sängerin selbst überwältigt von dem, was ihr mit dem singen wiederfährt. und dieses kippen zwischen technischer herrschaft und emotionaler unterwerfung ist vielleicht auch typisch für diese art von virtuosität.
Tatjana Romanowska - 21. Jul, 23:18
das ist super interessant. das verstörende an dieser casting-show-virtuose-performance ist für mich der zusammenprall von kindlichkeit und den offenbar 'gewaltigen' Anforderungen, die an eine virtuose performance dieser art gestellt werden und die das mädchen hunderprozentig zu beherrschen scheint: hingabe, überzeugtheit, stärke, Kopf in den nacken, hand in die luft, breitbeinig vors publikum den letzten ton rausschreien usw. - als würde sie die maske einer casting-show-gewinnerin aufsetzen, obgleich sie viel zu jung dafür scheint. virtuos in diesem sinne meint nicht nur eine kräftige und im wahrsten sinne des worten überwältigende stimme zu haben, sondern die anforderung eines virtuosen casting-show-wunderkindes aufführen zu können: virtuosität als spezifisch restringierte performance mit eigenen regeln. dazu gehören auch die reaktionen der jury: geplättet-sein, standing-ovation, "this was absolutly un-be-liev-able!" - virtuosität also nicht nur als eine besondere fähigkeit oder ein seltenes talent, sondern als eine gesellschaftlich konventionalisierte performance, in der es um leistung, (nationales und finazielles) kapital und repräsentation geht.
die frage ist, ob das überwältigtsein von den eigenen fähigkeiten teil der aufgeführten virtosen-konventionen ist (ein paar tränen als zeichen des emotionalen überwältigtseins werden ja immer verlangt) oder so etwas wie einen 'störfaktor' darstellt: das erschreckende oder der schrecken an diesem video zeigt sich für mich vor allem in der verstörten reaktion des mädchens nach der preisverleihung, wo sie - wie ein kleines kind - die gekrümmten finger an die lippen hält und hilflos ins publikum blickt und schließlich selbst der showmaster seine verlegenheit gegenüber diesem scheinbaren konventionsbruch mit einem "I was just kidding" unsicher überspielen muss. da frage ich mich: was soll dieses mädchen auf diesem podium? wird sie da je verkraften? und vor allem: wem dient ihre virtuosität?
die frage ist, ob das überwältigtsein von den eigenen fähigkeiten teil der aufgeführten virtosen-konventionen ist (ein paar tränen als zeichen des emotionalen überwältigtseins werden ja immer verlangt) oder so etwas wie einen 'störfaktor' darstellt: das erschreckende oder der schrecken an diesem video zeigt sich für mich vor allem in der verstörten reaktion des mädchens nach der preisverleihung, wo sie - wie ein kleines kind - die gekrümmten finger an die lippen hält und hilflos ins publikum blickt und schließlich selbst der showmaster seine verlegenheit gegenüber diesem scheinbaren konventionsbruch mit einem "I was just kidding" unsicher überspielen muss. da frage ich mich: was soll dieses mädchen auf diesem podium? wird sie da je verkraften? und vor allem: wem dient ihre virtuosität?
allesfliesst - 23. Jul, 11:48
meine vermutung ist, dass der massentaugliche virtuose heute tatsächlich genau das zu leisten hat, was das publikum auch leistet, was im prinzip jeder leisten soll. die performance (egal, in welchem "metier" sie stattfindet) ist auf ein paar allgemeine leistungsmerkmale heruntergebrochen, zu denen im prinzip jeder zugang hat. ihr gemeinsames 'wesen' liegt darin, dass sie exzess und kontrolle verbinden - und auf der basis einer solchen formel unterscheiden sich musik und z.b. management nur noch in bezug auf die anwendungsgebiete des könnens.
in diesen casting shows ist die identifikation des ausnahme-status (du bist was ganz besonderes, du hast das zeug zu einem star!) mit der minimaldefinition von massenvirtuosität (im prinzip kann das jeder!) besonders direkt. ich glaube, deshalb sind diese formate 'störanfällig', weil es ab und zu momente gibt, in denen das als widerspruch rauskommt, sich einfach irgendwie zeigt - und dann ist es peinlich. aber mir scheint auch, dass diese störungen die ökonomie des massenvirtuosen nicht wirklich gefährden. das wird dann eher in "menschliches verständnis" dafür umgesetzt, dass "die kleine dem ruhm noch nicht gewachsen ist" (was ja nur die kehrseite des vertrauens ist, dass sie es in ein paar jahren dann sein wird). auch die tatsache, dass die allermeisten der gecasteten stars sehr schnell wieder im nichts verschwinden, scheint nicht zu nachschubmangel oder zuschauermangel zu führen. die verachtung der anderen normalen für die gecasteten stars gehört sowieso genauso dazu wie die begeisterung.
hier übrigens noch ein paar beispiele für verschiedenen formen oder figuren des überwältigt-seins, die ich eher zufällig entdeckt habe - konzertfotos von hedi slimane. wenn man ein bisschen runterscrollt gibt es sehr schöne bilder von fans in verschiedenen stadien der verzückung und verzweiflung.
in diesen casting shows ist die identifikation des ausnahme-status (du bist was ganz besonderes, du hast das zeug zu einem star!) mit der minimaldefinition von massenvirtuosität (im prinzip kann das jeder!) besonders direkt. ich glaube, deshalb sind diese formate 'störanfällig', weil es ab und zu momente gibt, in denen das als widerspruch rauskommt, sich einfach irgendwie zeigt - und dann ist es peinlich. aber mir scheint auch, dass diese störungen die ökonomie des massenvirtuosen nicht wirklich gefährden. das wird dann eher in "menschliches verständnis" dafür umgesetzt, dass "die kleine dem ruhm noch nicht gewachsen ist" (was ja nur die kehrseite des vertrauens ist, dass sie es in ein paar jahren dann sein wird). auch die tatsache, dass die allermeisten der gecasteten stars sehr schnell wieder im nichts verschwinden, scheint nicht zu nachschubmangel oder zuschauermangel zu führen. die verachtung der anderen normalen für die gecasteten stars gehört sowieso genauso dazu wie die begeisterung.
hier übrigens noch ein paar beispiele für verschiedenen formen oder figuren des überwältigt-seins, die ich eher zufällig entdeckt habe - konzertfotos von hedi slimane. wenn man ein bisschen runterscrollt gibt es sehr schöne bilder von fans in verschiedenen stadien der verzückung und verzweiflung.
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