Montag, 3. März 2008

Virtuosität auf Japanisch: Kokuban.in

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Damit virtuose Steigerung als solche zur Geltung kommt, bedarf es häufig erstmal einer Reduktion der Mittel. Das steigert die Schwierigkeiten und lässt das Schwierige als zu Meisterndes in Erscheinung treten. »Reduktion von Komplexität zum Aufbau von Komplexität« — diese Formel des Soziologen Niklas Luhman trifft auf Virtuosität in einem besonderen Sinne zu.

Ein sehr geeignetes Objekt für virtuoses Zeichnen zum Beispiel ist eine Schultafel — besonders, wenn es sich um eine digitale Schultafel handelt und man die Kreide mit der Maus bewegen muss.

Die japanische Website kokuban.in (deren Entdeckung ich meiner Freundin verdanke) bietet eine solche Tafel, auf der jeder seine Kunstfertigkeit als digitaler Kreideschmierer erproben kann. Besonders faszinierend ist dieses Archiv der populärsten Zeichnungen, in dem sich einige höchst virtuose Beispiele finden. Das Tolle: Man sieht in einer Animation das Entstehen der Zeichnung im Zeitraffer, so dass das Zeichnen als Performance nachvollziehbar wird.

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Und noch eine Virtuosin der Schultafel: Tacita Dean

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Und da wir schon bei Kreide sind: Julian Beever

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Freitag, 8. Februar 2008

Skalierungen



»[D]as Verkäufliche ist selber die von Subjektivität verwaltete Subjektivität. Der virtuose Gebrauch der ›Skala‹, der den Artisten seit dem neunzehnten Jahrhundert definiert, geht aus der eigenen Triebkraft, nicht erst durch Verrat in Journalismus, Spektakel, Kalkulation über.«
(Adorno, Minima Moralia, S. 412f.)


Die Technisierung des Handelns, die virtuose Performance voraussetzt und vorantreibt, findet ihren deutlichsten Ausdruck tatsächlich in der Skalierung. Wo jemand virtuos werden will, muss der Bereich dessen, was sich machen lässt, aufgeteilt worden sein. Virtuos-Werden nimmt eine solche Aufteilung des Machbaren, wie sie sich etwa in der technologischen Konstruktion eines Instrumentes darbietet, als Gelegenheit wahr: die Saiten, die sich über das Griffbrett einer Violine spannen, die Tasten eines Klaviers...

Das Klavier ist für das Virtuosentum in der Musik insofern ein exemplarisches und zugleich kritisches (und daher symbolisches) Instrument, als seine Mechanik der Klangerzeugung die Logik der Skalierung direkt umsetzt. Bei der Geige bleibt die Beziehung zwischen der mechanischen Aufteilung und dem Ton bzw. Klang noch disponibel. Paganini, der dafür berühmt war, Saiten reißen zu lassen und das Konzert allein auf der G-Saite zu Ende zu spielen, konnte deshalb die Behauptung von Novalis beweisen, die Aufteilung in Saiten sei »nur zur Bequemlichkeit«, es gebe eigentlich »nur eine Sayte«. Der Bau des Klaviers dagegen verknüpft mechanische Elemente und akustisches Resultat relativ fest. Es vergegenständigt die Klangerzeugung, die materielle Seite der musikalischen Performance – d.h., es funktioniert weitgehend als Apparat.

Virtuoses Spiel auf dem Klavier kommt dort zustande, wo der Musiker diese fixe Aufteilung des Instruments mit ihrer hohen Ausgangskomplexität wiederum in eine freie(re) Disponibilität überführt: wo er die lineare Ordnung der Klaviatur durch das Spiel darauf so in Bewegung versetzt, dass sich daraus andere Ordnungen zu ergeben, andere Beziehungen als das Nebeneinander schwarzer und weißer Tasten hervorzutreten scheinen (scheinen – denn was die Performance erwirkt, hält sich, gerade auch als Wirkung auf das Instrument, immer in der Schwebe zwischen Illusion und Wirklichkeit, es besteht und es beeinflusst als Schein).

Indem er neue Skalen er-findet, reorganisiert der virtuose Pianist das Klavier. Das führt – als Raffinesse – etwas von der Freiheit in den starren Mechanismus wieder ein, die der flexiblere Mechanismus gewährt hatte. Liszt orientierte sich nicht zufällig am Geigenspiel Paganinis, um eine neuartige virtuose Spielweise auf dem Klavier zu entwickeln. Die andersartige Skalierung der Violine (die größere räumliche Nähe der Töne, die Möglichkeit des Gleitens auf den Saiten, die Alternativen zur Erzeugung desselben Tons, die höhere körperliche Beweglichkeit des Instrumentalisten und die entsprechenden Chancen des ›Ausdrucks‹) bot ihm eine Herausforderung. Er versuchte, entsprechende Effekte mit der Mechanik des Klaviers zu erreichen, und diese Verbindung von Spieltechnik und Instrumententechnologie im Hinblick auf das Erzeugen eines Effektes führte zu einer performativen Neuorganisation des Klaviers, die das Spektrum dessen, was man mit diesem Instrument tun konnte, erheblich erweiterte.

Skalierung ist also im Hinblick auf Virtuosität eine Anforderung, die den Zusammenhang von Technik und Technologie betrifft: ihr Zusammenhängen im Instrument, das sowohl ein Produkt technologischer Entwicklung als auch ein Medium des Produzierens ist. Das Reorganisieren von Skalen, ja die Veränderung dessen, was wir überhaupt unter einer Skala verstehen können, gehört zu den wahrscheinlich wichtigsten und bis heute interessantesten Leistungen des Virtuosen.

Und insofern erfasst Adornos Kritik nur eine Seite der Skalierung: Zweifellos spielt die Aufteilung der musikalischen Performance in eine Skala von technischen Figuren, die der Musiker »drauf hat« und die das Publikum hören (und möglichst sehen) will, eine maßgebliche Rolle für den kommerziellen Erfolg der Virtuosen seit dem 19. Jahrhundert und damit für die Kommerzialisierung von Musik überhaupt. Doch dieselbe Reduktion ästhetischer Komplexität auf das technische Spektrum erschließt der Musik einen neuen Wirkungsbereich, ja eine neue Wirklichkeit, nämlich die eines Mediums der Organisation. Aus eben dem Grund, der sie ästhetisch diskreditiert, wird die musikalische Performance zu einem Untersuchungs- und Experimentierfeld für die Praxis des Organisierens – und die Aufführungen zu Gelegenheiten, bei denen man eine Freiheit der Praxis entdecken (oder wiederentdecken kann): eine performative Freiheit, die nichts mit der des kreativen Schöpfers gemein hat, die sich vielmehr dort äußert, wo die Performance das Werk als Material gebraucht, um ihre eigene materielle Realität, die der instrumentalen Klangerzeugung, zu reorganisieren. Was heute in der Software-Entwicklung unter der Bezeichnung »scaleability» große Aufmerksamkeit genießt, hätte man von den romantischen Virtuosen lernen können, hätte man sie weniger als (pseudo-)geniale Gefühlsproduzenten und mehr als Experimentatoren einer niemals vollends im Technologischen aufzuhebenden Technik betrachtet.

Freitag, 25. Januar 2008

Virtuosität und Industrie




Es besteht ein hintergründiger Zusammenhang zwischen den scheinbar jeder Kunst und Würde beraubten Leistungen, wie die Manufaktur- und Industriearbeiter sie in ihren Betrieben vollbrachten, und der Figur des Virtuosen. Die Po(i)etik von Virtuosität nimmt das, was der Industriekapitalismus massenhaft umsetzte, in gewisser Weise immer schon vorweg: Erst dort, wo die einzelne Tätigkeit von ihrer Zweckbestimmung durch die zu schaffende Ganzheit eines Werkes gelöst ist, wo der Herstellungsvorgang zum Arbeitsschritt und damit zu einer reinen Performanz wird, wo das, was zu tun ist, von selbst geht und man dessen Beobachtung darauf beschränken kann, die Einhaltung der Wiederholung zu überwachen, findet sich die Gelegenheit zu einer virtuosen Steigerung.

Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der ein Fließbandarbeiter seinen kleinen Handgriff verrichtet, zu dem er ein durchaus äußerliches, durch die mechanische Wiederholung bestimmtes Verhältnis hat, die unscheinbaren Steigerungen, die er selber in diesen vorgegebenen mechanischen Ablauf einfügt (oder aus ihm herausholt) und die nur seine eigene Performance betreffen und nicht das Produkt, das am Ende steht, sind dunkle Reflexe des Künstler-Virtuosen, der sich auf Koloraturen, Spitzentöne, rasende Arpeggien oder spektakuläre Sprünge konzentriert statt auf eine angemessene, in Proportion zur Harmonie des Ganzen stehende Wiedergabe des Kunstwerkes – und umgekehrt, denn die Geschichte der Virtuosität seit dem 19. Jahrhundert lässt sich ebenso als spektakuläre Profanierung der Kunst lesen wie als künstlerisch-kreative Redeterminierung der profanen Produktion von Waren.

Die entscheidende Frage ist, welche Szene der bzw. das Virtuose zur Demonstration seiner Steigerungen erhält: Der Detailarbeiter ist der erste Performer im Bereich der Produktion. Die Tatsache, dass er höchst effektiv arbeitet, ohne etwas Richtiges gelernt zu haben, bietet hier nur deshalb keinen Anlass zum Staunen, weil die Organisation der Fabrik dem dort Arbeitenden Zeugen verweigert, weil ihre Fertigungsarchitektur die Anwesenheit von anderen durch eine rigide mechanische Refiguration auch der Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen neutralisiert und statt Gleichheit eine Gleichartigkeit etabliert, in der niemand mehr zu bezeugen vermag, was ein anderer tut, da alle für dieselbe Maschinerie tätig sind. Der industrielle Apparat, der das ökonomische Genie des Unternehmers und das technologische des Ingenieurs (später dann das organisatorische Genie des Managers) repräsentiert, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, und er zieht sie von dem ab, was die Arbeitenden in ihren subalternen Positionen tun können.

Durch diesen Entzug von öffentlicher Aufmerksamkeit und der entsprechenden Anerkennung wird Fabrikarbeit zur am niedrigsten bewerteten Tätigkeit, während virtuose Musiker, Sänger, Tänzer und Schauspieler als gefeierte Stars umherziehen. Und keine Anstrengung, nicht einmal die Bemühungen um eine sozialistische Poetik der Arbeit (wie z.B. die Bitterfelder Beschlüsse in der DDR sie erzwingen wollten), hat das kompensieren, geschweige denn die Implementierung des Mangels an Anerkennung für das, was Menschen einfach so tun können, aufzuheben vermocht.

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Der französische Philosoph Jacques Rancière überlegt in Aux bords du politique, ob man die Revolution statt als Umsturz der Besitzverhältnisse nicht eher als Wendung der Performance-Verhältnisse denken sollte:
»Vielleicht ist es in der Tat [en effet – lies: im Effekt] nicht notwendig, dass die Arbeiter, um Gleiche zu sein, ihre Fabriken besitzen und sie selber betreiben. Es genügt vielleicht, wenn sie bei Gelegenheit [à l’occasion] demonstrieren, dass sie es tun können.« (Jacques Rancière, Aux bords du politique, Paris 1998, S. 91)
Das knüpft Gleichheit sehr bewusst an die Demonstration eines Könnens, und zwar eines Es-tun-Könnens, d.h. einer Performance, die sich nicht kraft eines souverän andeutenden Nicht-(alles)-Tuns in eine sozio-ökonomische Ordnung der Kompetenz und ihrer Herrschaftsverteilung einträgt, sondern die einmal wirklich zeigt, was sie kann, sich dort in einer Aktualisierung verausgabt, wo sich die Gelegenheit dazu bietet.

Denn es geht hier nicht um den Aufweis einer Möglichkeit (»Die Arbeiter könnten als Gleiche Anerkennung finden...«), die sich in einer Bedingung verwahrt (»...wenn es ihnen gelänge, ihre Fabriken selber zu betreiben«). Es geht nicht darum, diese Möglichkeit gegen die Realität in Anschlag zu bringen, in der die Arbeiter die Fabriken nicht besitzen und weit davon entfernt sind, diese selber zu verwalten. Der Kampf, den die Rhetorik des emanzipatorischen Handelns einrichtet, soll nicht zwischen einem Möglichen und einem Realen stattfinden, sondern zwischen einer Wirklichkeit, die sich als Wirklichkeit eines Es-Tuns der Gegenwart bemächtigt, und der sich ihrerseits stets strategisch im Möglichen zurückhaltenden und vorbehaltenden Realität der ökonomischen und sozialen Ungleichheit.

Die Demonstration des Könnens erlangt ihre Wirksamkeit darin, dass sie ihre Wirklichkeit – eben: die einer Demonstration – den Fakten entgegensetzt, anstatt den nahezu zwangsläufig zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, sich in das Feld der ökonomisch und sozial ermittelten Fakten zu integrieren. Zu wissen, dass Arbeiter eine Fabrik in eigener Regie betreiben können, legt die Konstitution der realen Verhältnisse frei, in denen sie arbeiten. Diese Demonstration zeigt, dass die Ungleichheit nicht das Reale ist, an dem die Illusionen der Gleichheit bedauerlicherweise zerschellen, sondern eine Realität, deren Konstruktion eben dadurch Bestand hat, dass sie einen Teil der Wirklichkeit verleugnet und ausschließt: das virtuose Mehr der Arbeiter.

Es ist der systematische Abzug dieses virtuosen Mehr, der das, was die Arbeiter in den Fabriken tun, zu nichts als Arbeit macht, d.h. zu einem ›zurecht‹ untergeordneten Ausführen, das nicht imstande ist, sich aus eigener Kraft zu organisieren. Demonstrationen hätten demgegenüber eine Szene zu eröffnen, auf der die »Virtuosität des Detailarbeiters« in Erscheinung treten kann, die schon Marx in Staunen versetzt hat.

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Samstag, 5. Januar 2008

Julia Fischer

In den Lexika wird sie noch als "Geigerin" geführt, aber ihr Auftritt beim Neujahrskonzert in Frankfurt am Main dürfte nun zumindest den Zusatz "Allrounderin" und eben auch "Virtuosin" rechtfertigen. Dort spielte sie nach dem 3. Violinkonzert von Saint-Saens noch ein weiteres Konzert, aber eben kein Violinkonzert, sondern das Klavierkonzert von Edvard Grieg. Die Presse staunt und feiert und spricht von neuzeitlicher Sensation. Möglicherweise ist es aber auch nur eine Urmusikalität, die sich Bahn bricht und nur durch die Einmaligkeit, von einer Person in einem Konzert demonstriert zu werden ungläubiges Staunen hervorruft. Oder, um es mit einem Zitat zu beantworten: ein berühmter Sänger antwortete auf die Frage, wie er sich denn bei dem vollen Terminkalender entspanne, ganz einfach: "Ich habe doch die Musik. Ich entspanne mich bei meinen Konzerten."

Donnerstag, 13. Dezember 2007

Wunderkinder




Zu den Figuren, die ein Diskurs über das Virtuose stets mit aufruft, gehört das Wunderkind, ohne dass jedoch ganz klar wäre, wie es mit diesen kleinen Zuviel-Könnern steht. Der Fünfjährige, der auf der Geige brilliert, verkörpert schon etwas, das für die Dynamik des Virtuos-Werdens wesentlich ist: Man kann es zur Virtuosität bringen, ohne ›Reife‹ zu besitzen. Man kann sofort damit anfangen und sehr schnell sehr weit damit kommen. Die Zeit des Virtuos-Werdens ist eine durchaus andere als die der Reifungsbiographie. Wer virtuos wird, vollzieht nicht die richtigen Entwicklungsschritte im vorgesehenen Alter, sondern richtet seine Steigerung in einem ersten Augenblick ein. Und er verbleibt in diesem Augenblick, während er seine Performance weiter und weiter steigert – die Bahn der Steigerung führt niemals aus dem Verfrühten des ersten Erfolges heraus, weshalb der Virtuose später, wenn die anderen ihre Fähigkeiten entfaltet haben, auf der einsamen Höhe seiner Spitzenperformance doch wie ein Zurückgebliebener anmuten kann. An den Glanz des wunderbar begabten Kindes erinnert das Kindische jenes Glanzes, auf dessen Erzeugung der Erwachsene sich einzig versteht.

»Wahre Virtuosen«, möchte man daher rasch betonen, sind mehr als Wunderkinder. Denn der populistische Kult um die Wunderkinder scheint all das ans Licht zu zerren, was an der Virtuosität selbst im Verdacht steht, falsch zu sein: Ihre Leistungen entwertet das Voreilige der Effekte. Das, was man Frühreife nennt, wartet stets darauf, vom regulären Vergehen der gemeinen Zeit als einziger Effekt entlarvt zu werden. Adorno verglich die frühreifen Menschenwesen mit Treibhauspflanzen: »Sie sind ein Ärgernis der naturhaften Ordnung, und hämische Gesundheit weidet sich an der Gefahr, die ihnen droht, so wie die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negation der Gleichung von Erfolg und Anstrengung mißtraut. In ihrer inwendigen Ökonomie vollzieht sich, bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die man ihnen stets gönnte.« (Minima Moralia, Nr. 101)

Die standardisierte Zeitlichkeit einer »altersgemäßen Entwicklung« setzt sich, so scheint es, schließlich gegen das Irreguläre durch, indem das Leben selbst für das Mehr, das es anfangs gewährte, etwas zurückfordert: Bazzini mit fünf kostet entweder eine verarmte, durch die einseitige Konzentration auf das Instrument und die unzähligen Stunden des Übens verkrüppelte Persönlichkeit, oder (und hier liegt dieselbe Kalkulation zugrunde) sie kostet die ›wahre Kunst‹, die Fähigkeit, mit fünfundzwanzig etwas Besseres, Tieferes, künstlerisch Anspruchsvolleres als Bazzini zu spielen. »Das Leben«, d.h. eine bestimmte Ökonomie der Zeit, hat in diesen bürgerlichen Vorstellungen vom Künstlertum die Aufgabe, den Frevel des Verfrühten zu rächen. Mehr zu können, als die geltenden sozialen Standards für möglich annehmen – das darf, ja soll es geben, solange es sich an das Modell eines Pakts mit dem Teufel hält, für den der Profitierende seine Seele hergibt.





Was geschieht aber mit dieser so soliden bürgerlichen Ökonomie eines Ausgleichs von Mehr-Leistung und Mangel heute, da die neoliberale Reformpädagogik sich offenbar anschickt, das hochbegabte Kind zu einem sozialen Faktum zu erklären – also gerade jenen Bruch mit der »naturhaften Ordnung« zu naturalisieren?

Die ökonomische Direktive dieser Pädagogik, der man an »fortschrittlichen« Privatschulen mit glänzenden PISA-Ergebnissen folgt, lautet, das Potenzial eines Schülers bis zur Neige auszuschöpfen. Zu diesem Zweck ist man bereit, Standards wie ein einheitliches Notensystem oder die fixe Einteilung in Klassenstufen aufzugeben. An die Stelle der Standardisierung soll ein radikaler Individualismus treten, der jeden Lernenden nach seinen spezifischen Möglichkeiten fördert und ihm hilft, das Maximum dessen zu erreichen, was er (oder natürlich: sie) zu erreichen vermag

Die Individualisierung findet hier in der Dimension des Möglichen statt. Die Pädagogik definiert kein Leistungsniveau mehr, von dem sie annimmt, dass alle es erreichen können. Sie verlegt sich darauf, in einer aufwändigen persönlichen Einzelbetreuung das individuelle Möglichkeitsprofil eines jeden Schülers zu ermitteln. Es soll hinsichtlich der Leistung keine normalen Kinder mehr geben. Statt die Leistungen des Einen gegen die der anderen zu rechnen, verrechnet man nun jeden Leistenden mit sich selbst. An die Stelle einer Ordnung von Norm und Überschreitung (nach oben oder nach unten) tritt eine freie Dynamik der Normalisierung, die Gerechtigkeit verspricht, weil sie das Zu-viel ebenso wenig kennt wie das Zu-wenig, weil sie keine Abstände zwischen Wirklichem und Möglichem, sondern nur Verteilungen registriert, in denen Wirklichkeit und Möglichkeit immer schon miteinander zu einem einzigen Wert verschmolzen sind, da das Mögliche ebenso individualisiert ist wie das Wirkliche, sich dem Wirklichen angepasst hat.

Die Hoffnungen, die Eltern und Politiker auf diese Reformschulen projizieren, gehen darauf aus, dass man dort in allen oder jedenfalls in vielen die Wunderkinder entdecken wird, deren außerordentliche Talente bislang in den konventionellen Bildungseinrichtungen keine Beachtung fanden und verkümmerten – und die Schulen leben derzeit davon, dass sie diese Hoffnungen entsprechend manipulieren, sich als institutioneller Zugang zum Erhofften präsentieren. Doch tatsächlich kündigt die neoliberale Pädagogik nicht mehr an, als dass sie jedes Kind zu dem machen wird, was es ist. Es wird keine neue Ära des Wunderbaren anbrechen, sondern die alte, noch durch die Widersprüche und Paradoxien der immanenten Auflehnung des Menschen gegen die Natur bestimmte, definitiv an ihr Ende gelangen. Die Naturalisierung von Leistung bewahrt vor den negativen Konsequenzen des Unnatürlichen. Sie tilgt jedoch im selben Zug sämtliche Spuren jenes Menschlichen, das nur als Über-Natürliches, sich über die Bedingungen der eigenen Existenz Hinwegsetzendes Geltung beanspruchen konnte. Das heißt, sie tilgt die Spuren des Virtuosen als einer Berufungsinstanz für die Nichtübereinstimmung eines Menschen mit dem Leben seiner Spezies. Die neuen Virtuosen werden Bio-Sozio-Virtuosen sein: Vertreter ihrer Art bis in die abwegigsten Ausbildungen von Fähigkeiten hinein, deren evolutionärer Nutzen sich nicht einmal mehr in einem Beitrag zum Leben der Menschheit, sondern unmittelbar im eigenen Leben erweist. War das Wunderkind noch ein Symbol der Verausgabung (ihrer Pracht und ihrer Gewalt), gibt sich das seinen Möglichkeiten entsprechend geförderte hochbegabte Kind als Ressource, Produktionsmittel und Produkt einer Bio-Ökonomie zu erkennen, die auf keinen Ertrag zu verzichten gewillt ist, am wenigsten auf das verausgabte Mehr.













Freitag, 2. November 2007

Herrschaft, als Spiel

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Giorgio Agamben scheint in seinem Versuch, die Profanierung wiederzuentdecken, eine Theorie der sozialen Virtuosität zu implizieren. Denn es geht dabei um nicht weniger als um die Erlösung des Handelns, seine Entbindung von den metaphysischen Determinationen und seine Befreiung zur irdischen Endlichkeit durch das Spiel.

Agamben macht einen sehr allgemeinen Sachverhalt deutlich: Es gibt in der abendländischen Kultur keine direkte, unkomplizierte Handhabung der Dinge. Der Zugriff auf die Dinge wird von einer Intention bestimmt, diese von einem Willen, und dieser ist hintergründig durch ein Begehren determiniert, das die Intention durchkreuzt und sich an den Widerständen aufrichtet, die das Ding dem Handeln bietet. Es hat in der abendländischen Kultur niemals eine Sphäre des reinen Gebrauchs gegeben, nur ein temporäres Vergessen der Komplikationen oder ein gewaltsames Sichdurchsetzen dagegen (die Technik). Der Gebrauch ist dort, wo er stattfindet, eine ursprüngliche Wiederaneignung von Dingen, die dem menschlichen Zugriff durch sich selbst, durch das, was im Wesen der Dinge und im Wesen der zugreifenden Hand stets über das Ding und die Handlung hinaus weist (und zugleich in einer Art Mangelhaftigkeit davor zurückbleibt), entzogen waren. Agambens Definition der Profanierung setzt eine umfassende Anerkennung dieses ursprünglichen Entzugs voraus: Erst in dem Moment, wo bestimmte Dinge profaniert, dem Bereich des Heiligen (des für den Gebrauch Verbotenen, explizit als unzugänglich Markierten) entwendet oder aus ihm ausgesondert werden, ergibt sich für die Menschen die Möglichkeit, sie zu gebrauchen. Der Gebrauch ist kein primäres Verhältnis zu den Dingen, in das die Religion einbricht, das sie unterbricht, um eine Sphäre des vom Nutzen Freien zu schaffen, sondern umgekehrt hängt der Gebrauch von der Chance zu einer Vernachlässigung des Heiligen ab.

Die Profanierung, wie Agamben sie denkt, ist also eine allgemeine kulturelle Formel des Handelns als eine Form von access. Die Profanierung gewährt Zugang zu einer Eignung der Dinge, sie verschafft die irdische Erlösung des Dings zu einer Brauch- und Genießbarkeit. Dinge sind nicht ohne Weiteres zuhanden – sie müssen profaniert worden sein, wenn wir etwas mit ihnen anfangen können wollen.

Agamben nennt das Spiel als wichtigstes Performativ der Profanierung, ja als ein Modell des Profanierens: Das spielende Kind nimmt etwas aus der religiösen, durch die Einhaltung und Überwachung von Grenzen konfigurierten Welt der Erwachsenen und verwandelt es in ein Spielzeug (dies ist z.B. das Prinzip der Fernsehserie Tool Time, deren Komik darauf beruht, dass der Heimwerker-Ehemann als Prototyp des großen Kindes alles – Liebe, soziale Beziehungen, Beruf, psychische Problem usw. – profanieren und in ein Spielzeug verwandeln kann). Das Kind erlangt so eine besondere Autonomie, denn es findet immer etwas Brauchbares zum Spielen, egal, wie ärmlich oder feindselig die Umwelt ist. Agamben vergleicht diese kindliche Selbstermächtigung durch Profanierung der Tätigkeit des Philosophen. Kind und Philosoph erscheinen als das seit Nietzsche klassische Doppelgestirn, aber es geht hier um das scheinbar Alleralltäglichste: Das Spiel gewährt erst eigentlich Zugang zum Gebrauch, und nur der Philosoph und das Kind wissen um eine Wendung der Dinge, in der diese dem Menschen vollkommen zuhanden sind.

Agamben überspringt dabei den Künstler - und das vielleicht, um eine sehr viel problematischere Refiguration des Kindes zu vermeiden als die durch den Philosophen. Denn was etwa für aktuelle Management-Konzepte am Künstler vor allem attraktiv ist, ist eben dies: seine Fähigkeit, alles zum Mittel des Handelns zu machen, kraft seines spielerischen Zugangs zur Welt einen Gebrauchswert aus den Dingen herauszuholen, der jeder direkt ziel- und interessegeleiteten Annäherung verwehrt bleibt. Der Künstler lebt in einem Paradies der vollkommenen Brauchbarkeit. Seine schöpferischen Initiativen müssen sich offenbar nicht gegen Widerstände durchsetzen außer solchen, die er bewusst und bereitwillig eingeht, weil sie seine Tätigkeit intensivieren, den Input, den Kontakt mit sich selbst und damit letztlich den Genuss erhöhen. Die künstlerische Konsequenz des Spiels steht für eine Ökonomie der Profanierung, die der Kapitalismus seit einiger Zeit mit großer Neugier verfolgt – und Agamben, der die Profanierung explizit gegen die kapitalisische Banalisierung des Heiligen positioniert, trifft (oder: träfe) in der Figur des Künstlers auf einen prekären Spieler.

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Wie Agamben sieht Jeremy Rifkin die böse Absicht des Kapitalismus darin, „das Spiel zu kolonisieren“ (Access. Das Verschwinden des Eigentums Ffm., S. 351). Er betrachtet das Spielen als eine ursprüngliche, authentische und freie Form kultureller Produktivität. Doch hat das Spiel immer schon eine eigene Tendenz, sich in eine ökonomische Version seiner selbst hineinzusteigern, und die postfordistische Ökonomie tut nichts anderes, als diese Tendenz aufzugreifen, sie zu verstärken und ins Extrem zu treiben. Man könnte behaupten, dass die kulturanthropologischen, philosophischen und pädagogischen Modelle eines Spiels, das man als Gegenpol zu Arbeit und Herstellung auffassen wollte, einseitige Idealisierungen waren – und dass erst heute, da die Grenze von Spiel und Arbeit wirklich ihre normierende und schützende Macht zu verlieren beginnt, das Spiel in der Totalität seiner produktiven Kraft herauskommt.

Agambens Definition der Profanierung – etwas zuvor religiös Gebundenes und Entzogenes werde den Menschen zum Gebrauch zur Verfügung gestellt – idealisiert den Vorgang dort, wo er unterstellt, die Menschen, so wie sie als zur Menschheit gehörig von der Religion angesprochen wurden (durch einen gemeinsamen Ausschluss ihres Handelns vom Bereich des Heiligen), seien auch die Empfänger des Profanierten. Was aber dem Heiligen entnommen und in die Verfügung des Gebrauchs gestellt ist, das entzieht sich dem unmittelbaren Zugriff durch etwas anderes als die sorgsam und gewaltsam überwachte Grenze des Heiligen – es entzieht sich durch die Notwendigkeit der Teilnahme an jenen sozialen Vorgängen, die Zugang zum Brauchbaren verschaffen. Die Welt, in die das Profane fällt, ist entlang einer Indirektheit organisiert, die ihrem Wesen nach soziale Beziehung ist. Ehe die kapitalistische Simulation der Profanierung die Möglichkeit eines reinen Gebrauchs zerstört, sind es die sozialen Be-dingungen der Partizipation, die das profane Ding auf Wegen zirkulieren lassen, zu denen es immer wieder erst Zugang zu erlangen gilt.

Man sollte das Heilige also nicht nur dem Profanen entgegensetzen, sondern auch dem Sozialen: Während die Religion den Entzug lokalisiert, ihn auf einen Bereich des Geheiligten begrenzt, um den herum sich die Menschen versammeln, verteilt die total sozial gewordene Ordnung des entheiligten Lebens den Entzug flächig und gleichmäßig. Die Distribution der profanen Dinge und Verbreitung des Entzugs geraten hier zu ein und demselben Verfahren. Und für diese Gesellschaft gilt uneingeschränkt, was Adorno von der Virtuosität gesagt hat – sie sei „Herrschaft, als Spiel“.

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Dienstag, 16. Oktober 2007

Die große Kombination. Virtuosität im Schach (I)




Schach gilt als ein „logisches“ Spiel. Das ist, bestenfalls, die halbe Wahrheit, und die Faszination am Schach betrifft zumeist gerade die Momente, in denen sich das „Logische“, die Determiniertheit einer bestimmten Zugfolge, mit gewissen unwägbaren, dem Bereich des Ästhetischen, des Psychologischen und Biologischen, des Metaphysischen oder sogar Politischen zugehörenden Momenten verbindet.

Es gibt beispielsweise eine Faszination an der klaren Schönheit und Eleganz von Zügen oder Kombinationen, aber auch an der ästhetischen Eigenwilligkeit „exzentrischer“ Eröffnungen oder Varianten (überhaupt hat das Schach eine Ästhetik-Geschichte: zu Beginn des 20. Jahrhunderts ereignete sich mit den „hypermodernen“ Eröffnungen ein Bruch mit dem klassischen Konzept, möglichst geradlinig das Zentrum zu besetzen und viel Raum einzunehmen – ein Bruch, der die Gewissheiten bezüglich Raum und Zeit, Macht und Ohnmacht, Gewinn und Verlust ähnlich radikal in Frage gestellt hat wie in der Kunst).

Oder es gibt eine Faszination an jener Größe namens „Geisteskraft“, wo die messbare Intelligenz niemals isoliert auftaucht, sondern im Zusammenhang steht mit der psychischen und physischen Kondition eines Spielers, seiner Fähigkeit, Angst und Nervosität zu beherrschen oder beim Gegner zu verstärken, in der entscheidenden Phase der Partie zu brillanter Form aufzulaufen, ein langes, kräftezehrendes Turnier durchzustehen.

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Die Annalen der Schachgeschichte sind voll von eigenwilligen Techniken, Tics und zwielichtigen Manövern, die nicht selten die Grenze zum Gesetzwidrigen oder Übernatürlichen, zur technologischen oder magischen Verschwörung berühren: Nimzowitschs Kopfstände, während sein Kontrahent am Zug war, die „das Gehirn mit Blut versorgen“ sollten, aber vor allem auch dazu beitrugen, den anderen zu irritieren, gehören ebenso dazu wie Kortschnois Paranoia bei seinem WM-Kampf gegen Karpow, dieser habe einen Hypnotiseur engagiert, der im Publikum sitze und ihn parapsychisch manipuliere. Bobby Fischer, der zu einigen seiner WM-Partien gar nicht erschien, andere mit großer Verspätung doch noch zu seinen Gunsten entschied, um sich nach Gewinn des Titels komplett zurückzuziehen, gilt bis heute als die größte mythische Gestalt des Schach – und manche argwöhnen, dass sich sein Ruf als „bester Spieler aller Zeiten“ mehr den Partien verdanke, die er nicht gespielt hat, als seinen tatsächlichen Siegen.

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Beim legendären Weltmeisterschaftskampf zwischen Kasparow und Karpow 1984/1985, einem der wahrscheinlich spektakulärsten Turniere der Schachgeschichte, zeigte sich zudem, was es heißt, dass der Geist des Schachspielers in einem Körper täglich über viele Stunden am Brett sitzt – und dass dieser Körper auch ein politischer Körper ist: Nachdem der Herausforderer Kasparow in der ersten Phase zahlreiche Partien hatte abgeben müssen und fast aussichtslos 0:4 zurücklag, gelang es ihm das eigene Spiel über eine lange Serie von Remis (die nicht zählten) zu stabilisieren. Je länger das Turnier dauerte, desto mehr litt der zarte und gesundheitlich anfällige Karpow unter Konditionsproblemen, und nach einem zähen Ringen, das sich über Wochen erstreckte, begann er zu verlieren, so dass Kasparow aufholen konnte – woraufhin der Kampf im Februar 1985 nach 48 Partien beim Stand von 3:5 für Karpow unter wütendem Protest Kasparows und seiner Anhänger (und unter bis heute ungeklärten Umständen) abgebrochen wurde. Bei der Wiederholung des Turniers im Oktober 1985 mit veränderten Regeln (die den amtierenden Weltmeister leicht begünstigten), gewann Kasparow in einer bravourösen Entscheidungspartie mit 13:11.

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Dabei wurden die beiden Kontrahenten immer mehr zu Symbolfiguren in der politischen Auseinandersetzung, die sich zeitgleich vollzog: Der bleiche Russe Karpow mit seinem sauber gestriegelten dünnen Haar und seinem meist ausdruckslosen Gesicht schien die alte Sowjetunion mit ihren Apparaten und ihrem Filz, ihren mechanischen Funktionären und ihrer russischen Elite zu repräsentieren. Seine defensive Spielweise stand für ein System, das seit langem nichts mehr tat als sich zu verteidigen. Der temperamentvolle, aufmüpfige schwarzlockige Aserbaidschaner Kasparow dagegen, der ein offensives, zuweilen unkonventionelles Angriffschach spielte, avancierte zur Galionsfigur von „Glasnost“ (und sein Wechsel in den politischen Widerstand gegen Putin nach dem Karriereende erscheint von daher nicht überraschend).

Kasparows vielleicht schönster Sieg gegen Karpow 1985 (mit Schwarz!) zum Nachspielen

Man unterscheidet im Schach eine strategische und eine taktische Dimension. Es gibt sozusagen zwei zeitliche Aufmerksamkeitsradien – einen weiten, der sich auf die gesamte Partie erstreckt, und einen engen, der auf wenige Züge begrenzt ist. Hobbyspieler haben schon Probleme, einen oder zwei Züge im Voraus zu berechnen. Großmeister schaffen vier, fünf, sechs oder mitunter mehr, doch auch sie können keine längeren Entwicklungen zwingend determinieren, weshalb für die langfristigen, strategischen Entscheidungen nur vage Anhaltspunkte bleiben: Man weiß, dass bestimmte Figuren auf bestimmten Feldern prinzipiell vorteilhaft positioniert sind – ob sie ihr Potenzial jedoch entfalten können, entscheidet sich erst in der konkreten späteren Stellung. Es gibt mittlerweile sehr ausführliche Eröffnungs-Bibliotheken, deren Varianten sich immer weiter ins Mittelspiel erstrecken – nur selten jedoch bis zu einer klaren Gewinn- oder Verluststellung führen. Welche Strategie man letztlich wählt, hängt mit den eigenen Vorlieben oder Abneigungen zusammen, mit dem persönlichen Stil, mit dem, was man über die Stärken und Schwächen des Gegners zu wissen meint, oder einfach mit Tagesform und Intuition.

Jeder Zug ist also im Hinblick auf diese beiden Aufmerksamkeitsradien und ihre jeweiligen Kriterien zu prüfen: Befindet er sich im Einklang mit der gewählten Strategie, eröffnet er Potenziale, schafft eine aktive oder sichere Stellung? Und nutzt er die konkreten Optionen, den Gegner mit den folgenden Zügen in Schwierigkeiten zu bringen, Figuren zu schlagen oder den König anzugreifen, bzw. sichert er die eigenen Figuren und beugt direkten Angriffen des Gegners wirksam vor?

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Matt in zwei Zügen.

Wo nun zeigt sich die Virtuosität? Sie zeigt sich innerhalb des engeren, taktischen Radius, in der konkreten Situation, innerhalb weniger Züge, auch wenn die strategische Dimension, der Fokus auf die gesamte Partie, dabei niemals außer Acht bleibt. Die Bravourszene der Virtuosität im Schach ist die Kombination, vor allem dort, wo sie zum Sieg führt, wo der weite Horizont der Partie und der enge Horizont der aktuellen Stellung auf einmal überraschend zur Deckung kommen.

Der meisterhafte Schachspieler beweist sich als solcher zunächst darin, dass er diesen Übergang sieht. Ein Durchschnittsspieler, ja selbst ein solider Profi, der seine Partien mit Ausdauer und gleichmäßiger Wachsamkeit gewinnt (der, wie der Schachvirtuose und Spötter Tartakower zu sagen pflegte, deshalb gewinnt, weil er den vorletzten Fehler macht), wird die Gelegenheit zur virtuosen Kombination erst gar nicht erblicken. Denn es gehört zur virtuosen Kombination, dass sie schwer zu sehen ist, dass sie mit einem ungewöhnlichen, anscheinend widersinnigen oder sogar deutlich nachteiligen Zug beginnt. In ihren spektakulärsten Varianten beginnt sie mit einem Opfer – und den Gipfel des Spektakulären stellt wiederum die Opferung der wertvollsten Figur dar: der Dame. Man opfert die lebenswichtige Dame – und gewinnt trotzdem. Psychoanalytiker hätten dazu gewiss etwas zu sagen.

Bei der virtuosen Kombination geht es nicht nur darum, schnell zu gewinnen statt langsam, in vier oder fünf Zügen Matt zu setzen, statt Figur um Figur abzutauschen, um am Ende mit dem entscheidenden kleinen Übergewicht oder Tempovorsprung beim Vorrücken der Bauern dazustehen. Es kommt darauf an, elegant oder bravourös zu gewinnen – durch eine originelle, außergewöhnliche und riskante Folge von Zügen. Das Risiko steht hier nicht im Widerspruch zur Logik; es ist sozusagen die theatralische Dimension ihres Sich-ins-Werk-Setzens: Nur und genau mit diesen Zügen war in dieser Stellung ein Matt (oder ein Gewinn) zu erreichen. Jede Schwäche, jede Abweichung von dieser Sequenz hätte den zum Greifen nahen Sieg verspielt, und wenn die Kombination mit einem Opfer oder einem strategisch eigentlich ungünstigen Zug beginnt, bedeutet das Verspielen der Chance in der Regel tatsächlich den Verlust der Partie oder einen verzweifelten Kampf um das Remis.

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Matt in zwei Zügen.

Das Risiko ist also durchaus real, denn das „logische Denken“ des Schachspielers steht immer unter Zeitdruck und unter dem Einfluss zahlreicher höchst kontingenter Faktoren. Es kann stets passieren, dass eine für todsicher gehaltene Siegeskombination plötzlich, nachdem es bereits zu spät ist (denn: „wie berührt, so geführt“), ein winziges Loch offenbart. Reicher noch als an brillanten Kombinationen ist die Schachliteratur an Beispielen dafür, dass ein Angreifer eine nahe liegende Erwiderung übersah oder dass der Kontrahent seinerseits mit einem überraschenden Gegenzug aufwartete. Richtig zu rechnen bedeutet unter den Bedingungen einer Schachpartie eine Performance, die nicht einfach in der Anwendung gelernter Methoden bestehen kann (so agiert der Computer, und darin ist er um Vieles besser als die besten menschlichen Spieler). Das ‚Rechnen’ bedarf hier einer komplexen und labilen Verbindung von logischem Kalkül, visionärer Intuition, die zuweilen an Clairvoyance grenzen mag, oder auch einfach Frechheit – und Glück. Was letztlich die kombinatorische Virtuosität ausmacht, bleibt umso mysteriöser, als auch der Spieler selbst nachher nicht unbedingt klar angeben kann, was er in den Minuten vor dem entscheidenden Zug „gedacht“ hat (und vielleicht auch kein Interesse hat, es mitzuteilen).

Fortsetzung folgt

3d-spock-chess

Mike Rayburn - The World's Funniest Virtuoso Guitarist


...laut Selbstaussage.

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